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Gesellschaft

"Frust entlädt sich an behinderten Kindern"

Astrid Prange de Oliveira | Jennifer Wagner
3. Dezember 2018

Nicht Behinderte sind das Problem, sondern der Umgang mit ihnen, sagt der Aktivist Raúl Krauthausen im DW-Interview. Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung ist für ihn so wichtig wie der Weltfrauentag.

Deutschland - Raul Krauthausen | Inklusions-Aktivist und Gründer der "Sozialhelden"
Bild: picture-alliance/Sozialhelden e.V./A. Weiland

Deutsche Welle: Wie wichtig ist Ihnen der Internationale Tag für Menschen mit Behinderungen?

Raúl Krauthausen: Er ist genauso wichtig wie der Weltfrauentag. Ich habe nichts dagegen, wenn es einmal im Jahr einen Anlass gibt, um über die Belange von Menschen mit Behinderungen in einer größeren Öffentlichkeit nachzudenken. Die UN-Behindertenrechtskonvention zum Beispiel ist total wichtig, weil sie dafür sorgt, dass Dinge grundsätzlich verändert werden. Einzelne Projekte und Initiativen hingegen sorgen dafür, dass überhaupt Bewegung stattfindet und Innovationen in die Welt kommen. Beides ist wichtig.

Sie haben einmal gesagt, Behinderte seien "so eine Art Alien". Wie könnte sich der gesellschaftliche Umgang mit behinderten Menschen normalisieren?

Wir wissen aus der Vorurteilsforschung, dass die Mehrheit immer am meisten Angst hat, wenn die Begegnungen am seltensten sind. Das beobachten wir auch in Sachsen, wo es sehr große Vorteile und Ängste gegenüber Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund gibt. Ähnlich ist es bei Behinderungen. Da Kinder mit und ohne Behinderungen nicht gemeinsam in Kindergärten oder Schulen aufwachsen, führt dies dazu, dass wir später im Erwachsenenleben nicht wissen, wie wir miteinander umgehen sollen. Es ist nicht Aufgabe der Menschen mit Behinderungen, hier die ganze Zeit den Erklärbär zu machen. Es ist die Aufgabe der gesamten Gesellschaft dafür zu sorgen, dass wir gemeinsam miteinander leben können.

Welche Länder sind für Sie Vorbild im Umgang mit Behinderten?

In Spanien, Italien und Skandinavien ist die Grundhaltung anders. Nur weil einer eine Behinderung hat, heißt das nicht, dass er raus muss. Wir sagen ja auch nicht einem Mädchen, wenn Du sexuell nicht belästigt werden möchtest, dann zieh Dir keinen Minirock an. Das Problem ist die Mehrheitsgesellschaft, die entweder junge Frauen belästigt, oder aber Menschen mit Behinderungen aussortiert. Es ist die Haltung, die ausschlaggebend ist: Betrachten wir Behinderung als ein Schicksal des Individuums, das halt Pech gehabt hat - oder betrachten wir Behinderung als etwas, das durch Barrierefreiheit, zum Beispiel in Form von Aufzügen, Punktschrift für blinde Menschen oder Gebärdensprache zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe wird?

Wer behindert wen? Raúl Krauthausen (Mitte) bei einer Protestaktion im Juni in BerlinBild: Imago/epd

Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Spanien und Italien haben bereits in den 80er Jahren die Förderschulen abgeschafft. In skandinavischen Ländern ist die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen viel weiter voran geschritten, sowohl in der Schule, als auch auf dem Arbeitsmarkt und in der Freizeit. In Großbritannien und in Österreich kann die Privatwirtschaft verklagt werden, wenn sie nicht barrierefrei ist. In all diesen Punkten hinkt Deutschland hinterher. 

Sie sind auf eine Sonderschule gegangen?

Ich hatte das Glück, in den 80er Jahren auf eine der ersten inklusiven Schulen in Deutschland gegangen zu sein, die Fläming-Grundschule in Berlin und die Sophie-Scholl-Schule, wo ich mein Abitur gemacht habe. Ich verstehe auch die ganze Aufregung über das angeblich so schwierige inklusive Schulsystem nicht, wenn es doch schon in den 80ern geklappt hat.

Mangelt es beim Thema Inklusion an politischem Willen?

Das Problem in Deutschland ist, dass seit Jahrzehnten an der Bildungspolitik gespart wird und die Klassen immer größer werden. Und der ganze Frust entlädt sich gerade an den behinderten Kindern. Und das ist nicht in Ordnung! Ich verwahre mich vor der Aussage, dass wir immer Fachkräfte brauchen, wenn es um Menschen mit Behinderung geht. Eltern behinderter Kinder waren vorher auch keine Fachkräfte. Mit dem Argument, Kinder könnten gemobbt werden oder überfordert sein, will die Mehrheitsgesellschaft in Wirklichkeit Veränderungen abwehren.

Welches Maß an Behinderung kann durch barrierefreie Technik wettgemacht werden?

Interview: Raul Krauthausen # 02.04.2012 # Shift # deutsch

04:19

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Wir können gerne alles dafür tun, um Barrieren mit Technik abzubauen, aber wir sollten nicht Technologien dafür einsetzen, um Menschen gegen ihren Willen gesund oder nicht behindert sein zu lassen, nur um den Normen einer Mehrheitsgesellschaft zu entsprechen. Das wäre genauso absurd, wie wenn wir Frauen sagen würden, wenn sie Karriere machen wollen, dann sollen sie sich zum Mann umoperieren lassen.

Ist der Begriff "behindert" an sich problematisch?

Das Wort "behindert" ist zunächst einmal eine Tatsachenbeschreibung. Wichtig ist die Betonung, dass es sich dabei um Menschen handelt. Also "Mensch mit Behinderung" oder "behinderter Mensch". Ich bevorzuge "behinderter Mensch", weil die Bezeichnung offen lässt, ob die Person behindert ist oder behindert wird. Wenn ich als Rollstuhl fahrender Mensch vor einer Treppe stehe, dann werde ich in erster Linie behindert und denke nicht, wenn ich jetzt laufen könnte, dann wäre alles super. Ich ärgere mich, dass es keinen Aufzug gibt.

Der politische Aktivist Raúl Krauthausen moderiert seit 2015 die Talkshow "Krauthausen - face to face" und ist Gründer der Organisation "Sozialhelden", die Projekte für Barrierefreiheit entwickelt. Krauthausen wurde am 15. Juli 1980 in Peru geboren und ist aufgrund der "Glasknochen-Krankheit" (Osteognesis imperfecta) auf den Rollstuhl angewiesen. 2013 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, 2014 erschien seine Biographie: "Dachdecker wollte ich eh nicht werden – Das Leben aus der Rollstuhlperspektive".

Das Gespräch führte Astrid Prange.

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