Evolution statt Revolution
6. Juni 2012Marokkos König Mohammed VI. hat schnell reagiert. Am 9. März 2011 hielt er eine seiner seltenen Fernsehansprachen und antwortete damit auf die Demonstrationen im Land, die am 20. Februar ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatten. Der König versprach mehr Demokratie und kündigte eine Verfassungsreform an. Diese ist inzwischen verabschiedet und stärkt den Ministerpräsidenten ebenso wie die Parteien und den Rechtsstaat ganz allgemein. Ein erster Schritt war getan. "Was noch fehlt", sagt Ulrich Storck, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rabat im Gespräch mit der Deutschen Welle, "ist der Prozess der Implementierung dieser Verfassung. Das ist nun Aufgabe der Regierung, alles Nötige in dieser Legislaturperiode auf den gesetzgeberischen Weg zu bringen."
Die neue Regierung wurde Ende 2011 gewählt und erstmals stellt eine gemäßigt islamische Partei, die PJD (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) den Ministerpräsidenten. Storck sieht aber nicht, dass Marokko dadurch traditioneller oder religiöser geworden ist. Die PJD sei vor allem deswegen gewählt worden, weil sie eine unverbrauchte Kraft ist und man ihr zugetraut habe, anstehende Probleme wie zum Beispiel die hohe Arbeitslosigkeit besonders unter Jugendlichen oder eine Reform des Bildungswesens anzugehen – Dinge, die die vorhergehende Koalition nicht erreicht hat. Die marokkanischen Wähler setzten ihre Hoffnungen auf das Wahlprogramm der PJD, das auf Sozialpolitik fokussiert war. Nun, ein gutes halbes Jahr später, sehen sie sich enttäuscht, weil es noch keine greifbaren Ergebnisse gibt.
König versucht sich an die Spitze der Bewegung zu setzen
Die als "Arabischer Frühling" bezeichneten Revolutionen in Tunesien und Ägypten haben den schon vor Jahren begonnenen Reformen in Marokko neuen Auftrieb gegeben. Anders als in Tunis oder Kairo ging es in der nordafrikanischen Monarchie nicht darum, sich eines verhassten Machthabers zu entledigen. Die Marokkaner stehen in großer Mehrheit zu ihrem König, denn Mohammed VI. wird auch als Garant für Stabilität gesehen. Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers und Beraters Thomas Schiller ist das einer der Hauptgründe für den gewaltfreien und "evolutionären" Reformansatz in Marokko. Der König und seine Berater seien mit den eingeleiteten Reformen weiteren Protestbewegungen entgegen gekommen. Man dürfe dabei jedoch nicht übersehen, dass dies "eine sehr intelligente Variante ist, die Position der Monarchie in Marokko dauerhaft zu sichern."
Damit sich der evolutionäre Reformprozess in die richtige Richtung entwickelt, sind nun zwei Dinge von Bedeutung: Zum einen müssen, so Schiller, die beschlossenen politischen Reformen neue politische Rahmenbedingungen schaffen, müsse aus der Verfassung Verfassungswirklichkeit werden. Zum anderen müssen die mit den politischen Reformen verbundenen Hoffnungen auf eine verbesserte sozio-ökonomische Situation im Land spürbar realisiert werden.
Den Worten Taten folgen lassen
Wie in den anderen arabischen Ländern, die im vergangenen Jahr tiefgreifende Veränderungen durchlaufen haben, sehen junge Menschen in Marokko keine oder wenige Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben mit Arbeit und Wohnung. Die ersten politischen Schritte müssen nun durch Wirtschaftsreformen untermauert und gefestigt werden. Es sei ganz entschieden so, dass es der überwiegenden Mehrheit der Marokkaner darauf ankomme, dass sich der wirtschaftliche Bereich besser entwickle, meint Schiller im Gespräch mit der Deutschen Welle. Das aber braucht Zeit. Hier können greifbare Ergebnisse nicht innerhalb weniger Monate vorgelegt werden, vor allem, wenn Vetternwirtschaft und Korruption das ohnehin schwache Wirtschaftswachstum bremsen.
Die marokkanische Wirtschaft produziert keine Überschüsse, die in Sozialprogramme investiert werden könnten. Storck von der SPD-nahen Ebert-Stiftung verweist darauf, dass Preise für bestimmte Produkte des täglichen Bedarfs noch immer subventioniert werden; das aber könne sich der Staat kaum noch leisten. Doch Preiserhöhungen führten unweigerlich zu Demonstrationen. Politische Ansätze, die Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land zu schmälern gibt es durchaus, aber, so Storck, " sie greifen alle zu kurz und tragen nur sehr langsam zur Linderung bei." Es gebe nichts, was bereits nach einem Jahr für die Bevölkerung spürbar wäre. Dennoch ist Storck überzeugt, dass Marokko auf dem richtigen Weg ist, auch wenn der Weg noch lange dauern werde und die Schritte klein seien. Für den Politikwissenschaftler Schiller ist der behutsame evolutionäre Weg Marokkos trotz der damit verbundenen Risiken der richtige, weil viele Marokkaner der Ansicht sind, dass er für Marokko besser geeignet sei als ein radikaler Bruch mit dem existierenden System.