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Empathie, lass nach!

30. Juni 2019

Ein Blick in die sozialen Medien genügt: Beleidigungen, Demütigungen und Hass scheinen Standard geworden zu sein. Ein klarer Fall von zu wenig Empathie! Oder? Nicht unbedingt. Eher von zu viel.

Mackenzie-Wölfe, Kanadische Wölfe | Canis lupus occidentalis
Bild: picture-alliance/imageBroker/M. Weber

"Die Drecksau hat den Gnadenschuss bekommen! Respekt!" So lautete nur einer von vielen verachtenden Hasskommentaren im Internet, nachdem Stephan Ernst den hessischen CDU-Politiker Walter Lübcke - nach eigenem Geständnis - erschossen hatte [Hinweis der Redaktion: der Angeklagte hat sein Geständnis seit der Veröffentlichung dieses Artikels widerrufen]. Verfasst hatte den Post ein Nutzer namens "Franz Brandwein" auf Youtube.

In der scheinbaren Anonymität des Netzes verbreiten Nutzer immer häufiger Hass- und Hetzkommentare. Die Rücksichtslosigkeit ist auf dem Vormarsch, die Empathie hat längst den Rückzug angetreten. 

Werden die Menschen tatsächlich immer rücksichtsloser? Oder offenbaren die sozialen Netzwerke bloß eine Rüpelhaftigkeit, die es schon immer gab und die lediglich aus den Kneipen der Offline-Zeiten ins Internet abgewandert ist? Möglich ist das natürlich, sagt Fritz Breithaupt, Kognitionswissenschaftler an der Indiana University in den USA. Er stellt aber auch fest: "Verbale Rücksichtslosigkeit und Rohheit nehmen zu."

Eine US-Studie aus dem Jahr 2011 untersuchte in einer Meta-Analyse die Entwicklung des empathischen Empfindens von Studenten zwischen den Jahren 1979 und 2009. Das Ergebnis: Die Empathiefähigkeit hat drastisch abgenommen. Vor allem seit dem Jahr 2000 geht es steil bergab. 

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Die dunkle Seite der Empathie

Aber ist das wirklich so schlimm? Breithaupt definiert Empathie als "Mit-Erleben mit einem anderen". Wir können sowohl kognitiv als auch emotional nachempfinden, was in einer anderen Person vor sich geht. Daraus resultiert aber nicht notwendigerweise soziales und moralisches Handeln.

In seinem Buch "Die dunkle Seite der Empathie" spricht Breithaupt von fünf bedrohlichen Tendenzen, die von der Empathie ausgehen. Eine davon ist, dass Empathie zum Schwarz-Weiß-Denken verführt und die Welt klar in Freund und Feind unterteilt. "Empathie kann Konflikte schüren, anstatt sie zu entschärfen."

Der Rechtsextremist, der womöglich sogar den Tod politischer Gegner begrüßt, ist nicht ohne Empathie – im Gegenteil! "Empathie führt zu Polarisierung, weil wir uns in Konfliktsituationen für die eine Seite entscheiden, in die hineinversetzen und deren Perspektive einnehmen und dann die andere Seite dämonisieren", erklärt Breithaupt. "Empathie kann bis zur Radikalisierung führen."

Einen Grund, warum sich immer mehr Menschen mit einer bestimmten Gruppe oder Ideologie empathisch zeigen, sieht der Kognitionswissenschaftler in der Zersplitterung des "Wir" zum "Ich". Die Welt ist voller einsamer Wölfe auf der Suche nach Anschluss. 

Viele Menschen haben keine ihnen fest eingeschriebene Gruppen-Zugehörigkeit mehr, sagt Breithaupt. Familien sind zersprengt, Gemeinschaften haben sich in der Anonymität der Großstädte aufgelöst. Und das obwohl Menschen nicht ohne andere Menschen leben können und wollen (siehe Grafik). 

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Wer sich nun ein neues Rudel sucht, der muss sich und den anderen Mitgliedern beweisen, dass er dazu gehört. Empathie mit der Gruppe, ihrem Anliegen und ihren Mitstreitern ist also unerlässlich.

"Um sich mit dieser Parteinahme gut zu fühlen, hilft es, wenn man diese Gruppe immer wieder für die bessere hält oder die unterdrücktere", sagt Breithaupt. "Ein kulturelles Phänomen ist, dass sich jeder auf irgendeine Art als Opfer entdeckt und damit auch als empathie- und mitleidswürdig." Das ist per se nichts Schlechtes und kann bei der Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse ungemein helfen.

Weniger ist mehr

Doch der Grad ist schmal. "In vielen Fällen muss Empathie abgebaut werden. Empathie für die eigene Seite. Um wieder Offenheit zu schaffen."

Die sozialen Medien sind dabei nicht unbedingt hilfreich. Mit nur einem Klick ist ein Beitrag repliziert, ein fremdes Statement klingt, als sei es das eigene. Was wir retweeten, teilen und liken hängt in erster Linie davon ab, was am besten in unser Weltbild passt. Die Gräben zwischen Menschen verschiedener Gruppen vertiefen sich, die Polarisierungen nehmen zu und damit die verbale Verrohung.

Das führt zwar nicht zwangläufig zu gewalttätigem Handeln, sagt Breithaupt. "Physische Gewalt und Rücksichtslosigkeit nehmen ab", sagt er und bezieht sich dabei auf die Forschungsarbeiten des Harvard-Psychologen Steven Pinker.

Dessen These lautet: Die Welt wird nicht schlechter, sondern besser. Das belegt er anhand von Zahlen zu Todesopfern durch Gewalt – Zahlen, die in den letzten 30 Jahren kleiner und nicht größer geworden sind.

Diese Entwicklung ist aber natürlich nicht in Stein gemeißelt und kann sich jederzeit verändern. "Ich glaube schon, dass auf Worte Taten folgen", sagt Breithaupt. "Je mehr sich Menschen durchaus empathisch in ihre eigene Position hineinsteigern, desto eher werden sie auch bereit sein, auf Worte Taten folgen zu lassen und sich im Extremfall zu Gewalttaten hinreißen lassen." 

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