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PolitikNahost

Raif Badawi: Frau kämpft seit neun Jahren um Freilassung

Kersten Knipp | Cathrin Schaer
16. Juni 2021

Seit neun Jahren sitzt der saudische Blogger Raif Badawi jetzt schon in Haft. Seine Frau sagt, es gehe ihm schlecht. Unterstützt von mehreren Initiativen, setzt sie sich weiter für seine Freiheit ein.

Frankreich Sacharow-Preis l Ensaf Haidar hält Bild von ihrem Mann Raif Badawi
Ensaf Haidar kämpft seit Jahren für die Freilassung ihres Mannes Raif BadawiBild: Patreich Ertzog/AFP/Getty Images

Raif Badawi geht es offenbar nicht gut. Seit neun Jahren sitzt der Blogger in saudischen Gefängnissen, verurteilt aufgrund seiner in sozialen Medien geäußerten Kritik am saudischen Königshaus. Die Haftzeit, teilt seine Ehefrau Ensaf Haidar mit, habe ihrem Mann zugesetzt. "Raif ist psychologisch in Not und muss schnell entlassen werden", übermittelt sie der DW schriftlich aus ihrem Exil in Kanada. Dies hätten dort auch Parlamentarier und Senatoren einstimmig erklärt.

"Ich hoffe", fährt Ensaf Haidar fort, dass dies sehr, sehr bald geschieht." Saudi-Arabien habe inzwischen seine Gesetze gelockert, mehr Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zugelassen und modernisiere sich generell. "All das wollte auch Raif für unser Land", so Haidar. "Was mich aber zusätzlich beunruhigt, ist der Umstand, dass es ihm auch nach zehn Jahren Gefängnis noch verboten sein wird, das Land zu verlassen." Tatsächlich hatte das Gericht vorsorglich ein mehrjähriges Ausreiseverbot auch für die Zeit nach seiner Freilassung verhängt.

"Beleidigung des Islam"

Der Blogger und Aktivist wurde im Juni 2012 verhaftet. Sein Vergehen: Er hatte sich kritisch über den Wahhabismus, die islamische Staatsreligion des Königreichs, geäußert. Außerdem hatte er die Machtfülle der Religionsgelehrten kritisiert. Das Gericht wertete dies als "Beleidigung des Islam" und verurteilte ihn 2013 zu einer sechsjährigen Haftstrafe, die in einem Revisionsprozess 2014 auf zehn Jahre erhöht wurde. Zudem wurde er zu 1000 öffentlichen Stock- bzw. Peitschenhieben verurteilt, von denen die ersten 50 auch vollstreckt wurden, bevor Saudi-Arabien diese Form der Strafe 2020 offiziell abschaffte.  

Die Deutsche Welle (DW) verlieh Badawi 2015 ihren Freedom of Speech Award, mit dem sie besonders mutige, aber auch besonders unter den Konsequenzen ihres Muts leidende Journalistinnen und Journalisten auszeichnet.

Ensaf Haidar nahm 2015 für ihren Mann den "Freedom of Speech Award" der DW entgegenBild: DW/Jan Röhl

Offiziell endet Badawis Haft am 28. Februar 2022. Angesichts seines Zustands wie auch der familiären Situation hofft seine Ehefrau jedoch auf vorzeitige Haftentlassung. "Neun Jahre lang leben meine Kinder und ich jetzt schon mit der Hoffnung", teilt sie der DW mit. "Die Kinder sind jetzt Teenager und meine Älteste ist erwachsen. Raif hat all die schönen Jahre der Kindheit seiner Kinder verloren. Er kennt sie nicht wirklich", sagt Haidar. "Je älter sie werden, desto mehr wird ihnen bewusst, wie sehr sie in ihrer Kindheit ihren Vater vermisst haben." Sie seien sich schmerzlich bewusst, dass er physisch abwesend sei - auch wenn er bis heute versuche, aus der Ferne Kontakt zu ihnen zu halten.

Neue Staatsbürgerschaft?

Bewegung in den Fall könnte aus Kanada kommen, wo Ensaf Haidar seit 2013 lebt. Bereits im Frühjahr hatte es eine parlamentarische Initiative gegeben, Raif Badawi die kanadische Staatsbürgerschaft zu verleihen und ihm auf diese Weise aus der Haft zu helfen. Nachdem der Antrag zunächst ohne konkrete Ergebnisse blieb, startete die Senatorin Julie Miville-Dechêne Anfang Juni eine neue Petition, die so genannte "Motion 80". Sie richtet sich an Kanadas Minister für Immigration, Flüchtlinge und Staatsbürgerschaft, Marco Mendicino.

"Herrn Badawi die kanadische Staatsbürgerschaft zu gewähren, könnte mehrere Vorteile haben", erklärt Miville-Dechêne gegenüber der DW. "Es gäbe Kanada die Möglichkeit, nicht nur eine regelmäßige Kommunikation mit ihm zu gewährleisten, sondern auch, in seinem Namen zu intervenieren und ihm diplomatischen Schutz zu gewähren. Raif Badawi könnte auch von kanadischen konsularischen Diensten profitieren, konsularische Besuche erhalten und vielleicht auch seine Haftbedingungen verbessern lassen", so die Senatorin.

Besuche und Beistand durch das Konsulat könnten zudem seine psychische Notlage lindern und wären auch für seine Familie ein Trost, so Miville-Dechêne. "Darüber hinaus könnte ihm ein kanadischer Pass gewährt werden als sicheres Geleit hierher im Falle seiner Freilassung, da er sonst Saudi-Arabien ja für 10 Jahre nicht verlassen dürfte." Nach internationalem Recht könnte Kanada zumindest auf Zugang zu dem Inhaftierten bestehen. Wie erfolgreich dies in der Realität wäre, lasse sich zwar kaum voraussagen. "Aber es würde zumindest etwas Hoffnung geben", so die Senatorin.

Internationale Solidarität schon seit Jahren: Plakat von Amnesty International in Berlin, 2015Bild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Internationale Solidarität

Solidarität mit dem saudischen Blogger gibt es weltweit schon seit vielen Jahren - dieser Tage kommt sie unter anderem aus der kanadischen Zivilgesellschaft. Am 15. Juni erschien ein Offener Brief des Schriftstellers Michel Marc Bouchard an den kanadischen Premier Justin Trudeau. "Wir alle kennen die geopolitische und wirtschaftliche Bedeutung des saudischen Königreichs", heißt es dort. "Aber wir sind nach wie vor sprachlos angesichts eines Regimes, das einen Journalisten der Washington Post ungestraft zerfetzt", schreibt Bouchard dort in Anspielung auf den im Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul auf grausame Weise ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi. Auch angesichts der weltweiten autoritären Tendenzen, wie sie sich etwa in Hongkong, Weißrussland und Russland zeigten, wäre eine baldige Freilassung Badawis ein Symbol der Hoffnung. Den Aufruf an Kanadas Regierung, sich genau dafür einzusetzen, unterzeichneten in dem Land rund 100 Künstler und Schriftsteller.

In Deutschland hat "Reporter ohne Grenzen" für Donnerstag (17.6.) zu einer Mahnwache für Raif Badawi vor der saudischen Botschaft in Berlin aufgerufen.

Keine Gnade für Aktivisten

Wie unnachgiebig die saudische Staatsführung handeln kann, wenn es darum geht, einmal gefällte Urteile auch gegen Proteste durchzusetzen, zeigte sich am Dienstag (15.6.). An diesem Tag wurde der 26 Jahre alte Mustafa al-Darwish hingerichtet. Ein saudisches Gericht befand ihn des "Aufruhrs" schuldig; Appelle von arabischen und internationalen Menschenrechtlern, den jungen Mann zu verschonen, blieben vergeblich. Die Anschuldigungen gegen ihn gründeten auf dem Umstand, dass al-Darwish in den Jahren 2011 und 2012 - der Zeit des so genannten "Arabischen Frühlings" - an regierungskritischen Protesten teilgenommen hatte. Die Staatsanwaltschaft warf ihm Beteiligung an einer bewaffneten Rebellion gegen die Machthaber, Bildung eines bewaffneten terroristischen Netzwerks und versuchte Aushöhlung des nationalen Zusammenhalts durch Teilnahme an über zehn Protestkundgebungen vor.

Hingerichtet mit 26 Jahren: Mustafa al-DarwishBild: ESOHR

Nachdem alle Rechtsmittel ausgeschöpft waren, lag es an König Salman, das Todesurteil zu unterschreiben oder Gnade walten zu lassen. Der König entschied sich offenbar für das Todesurteil.

Hoffnung aus Washington?

Für Raif Badawi hingegen sehen Beobachter eher Anlass zur Hoffnung - nicht nur, weil es bei ihm von Beginn an "nur" um Haft- und Prügelstrafen ging. Ein Punkt, der ihm und weiteren politischen Gefangenen entgegenkommen könnte, ist der Wechsel im amerikanischen Präsidentenamt. "Präsident Biden hat gesagt, dass die Menschenrechte in den Beziehungen zwischen den USA und Saudi-Arabien eine Rolle spielen werden", begründet der ehemalige kanadische Justizminister Irwin Cotler, derzeit Vorsitzender des "Raoul Wallenberg Center for Human Rights" in Montreal, seine Hoffnung auf wachsenden Druck aus Washington auf Riad.

Generell sei öffentlicher Druck ein wirksames Mittel, so Cotler. So habe dieser etwa dazu beigetragen, sehr rasch die 1000 Stock- oder Peitschenhiebe abzuwenden, zu denen Badawi neben seiner Haftstrafe ebenfalls verurteilt wurde, noch bevor Saudi-Arabien diese Form der Strafe offiziell aufhob. Veränderungen entstünden nicht, weil ein autoritäres Regime plötzlich ein Verständnis für Gerechtigkeit entwickelten, so Cotler. Veränderungen entstünden dann, wenn ein Regime im konkreten Fall erkenne, dass Veränderungen im eigenen Interesse seien.

Auf eine solche "Einsicht" bei den Mächtigen in Riad hofft auch Badawi-Ehefrau Ensaf Haidar. "Wir alle wären so glücklich, wenn das Königshaus Raif die letzten Monate seiner Gefangenschaft ersparen und ihm erlauben würde, zu seiner Familie zu kommen, die ihn mit so viel Ungeduld erwartet", teilt sie aus Kanada mit. "Wir brauchen seine Anwesenheit."

 

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika