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Gesellschaft

"Menschen hetzen ihre Hunde auf Flüchtlinge"

Hugo Flotat-Talon
6. Dezember 2020

Vor 30 Jahren wurde Amadeu Antonio nach einer rassistisch motivierten Hetzjagd zu Tode geprügelt. Robert Lüdecke, Pressesprecher der Amadeu Antonio Stiftung, warnt: Diese Art der Gewalt gibt es in Deutschland noch immer.

Eine Seite des Ausweises von Amadeu Antonio Kiowa
Bild: Imago/K. Horstmann

DW: Herr Lüdecke, Amadeu Antonio war ein junger Angolaner, der am 6. Dezember 1990 verstarb, nachdem er von 50 Skinheads und bekannten Neonazis durch die Stadt gejagt und verprügelt wurde. Was ist damals passiert? 

Man muss sich das so vorstellen, dass vor allem in ostdeutschen Kleinstädten beinahe täglich Gruppen von Rechtsextremen und Neonazis durch die Straßen gezogen sind. Man muss wirklich von einem rassistischen Alltagsterror sprechen. So war das auch in Eberswalde in Brandenburg, einer kleinen Stadt, die ein paar Kilometer von Berlin entfernt ist. In der Nacht vom 24. auf den 25. November 1990 versammelten sich da ungefähr 50 Männer. Das waren Neonazis, Skinheads und Metalheads. Also eine Mischszene, die aber ganz klar durch Rechtsextreme gesteuert war. Die haben erst in einer einschlägigen Diskothek zusammen gefeiert und dann gemeinsam den Entschluss gefasst, durch die Stadt zu ziehen und Schwarze zu jagen.

Auf ihrem Streifzug haben sie dann Amadeu Antonio und seine Freunde getroffen. Das waren alles angolanische Gastarbeiter und die haben sie durch die Stadt gejagt. Das war eine richtige Hetzjagd. Die Männer haben die Gruppe Angolaner irgendwann eingeholt und auf sie eingeprügelt. Mehrere wurden schwer verletzt. Die meisten von ihnen konnten entkommen. Amadeu Antonio aber nicht. Er wurde ins Koma geprügelt, aus dem er nie wieder aufgewacht ist. Er starb einige Tage darauf, am 6. Dezember 1990, an seinen Verletzungen.

Die Täter wurden danach zwar vor Gericht gebracht, aber die Gerichtsprozesse sind vielfach kritisiert worden. Was ist der Grund dafür?

Man muss leider sagen, dass die Täter wirklich mit sehr geringen Strafen davongekommen sind, mit wenigen Jahren Haft, die sie dann auch nicht vollständig abgesessen haben.

Das hat etwas mit dem Zeitgeist zu tun: In dieser Zeit wurde diese ganze Welle rassistischer Gewalt enorm kleingeredet. Sie wurde bagatellisiert und mit solchen Aussagen gerechtfertigt wie: "Das sind Jugendliche, die haben alle keine Arbeit nach der Wiedervereinigung, keine Perspektive, sind frustriert und müssen eben ihre Wut irgendwo rauslassen."

Auch dieser tödliche Angriff wurde kleingeredet, dass das eben Jugendgewalt sei. Deswegen wurden die Täter mit kleinen Strafen, man muss leider fast sagen, belohnt. Einige Jahre später war einer der Haupttäter, der an dem Mord an Amadeu Antonio beteiligt war, sogar an einem weiteren rechtsextremistisch motivierten Mord beteiligt. Also sieht man, dass das überhaupt keine abschreckende Wirkung gezeigt hat, sondern eigentlich genau das Gegenteil bewirkt hat, nämlich die Täter zu ermutigen. 

Der 28-jährige Angolaner Amadeu Antonio wurde am 25. November 1990 von 15 Rechtsradikalen angegriffen Bild: Imago/K. Horstmann

Seit diesem ersten rassistisch motivierten Mord nach der Wiedervereinigung sind dreißig Jahre vergangen. Wie würden Sie die Situation heute beschreiben?

Wir haben immer noch starke rassistische, rechtsextreme Gewalt auf den Straßen. Wenn wir uns allein dieses Jahr anschauen, haben wir zum Beispiel mehr als 1000 Angriffe und Übergriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte gezählt. Das sind jeden Tag im Durchschnitt drei.

Die Gewalt ist immer noch so direkt wie damals. Wir reden von Vorfällen, wo Menschen ihre Hunde auf Flüchtlinge hetzen, wo sie ihnen am helllichten Tag mit einer Flasche ins Gesicht schlagen. Das sind Bilder, die haben wir im Jahr 2020 genauso wie im Jahr 1990.  

Der Unterschied ist, dass der rechtsextreme Einfluss auf die Politik in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat und deswegen auch viel gefährlicher ist. Wir sehen tatsächlich, dass die AfD (die Partei "Alternative für Deutschland", d.Red.), und die ganze neue Rechte um sie herum, die Demokratie von innen angreift.

Amadeu Antonio war das erste Todesopfer rassistisch motivierter Gewalt nach der Wende in OstdeutschlandBild: picture-alliance/dpa

In Deutschland glauben mittlerweile viele, es sei heute anders. Ein Teil der Bevölkerung sagt dennoch, dass Leute, die anders aussehen, nicht akzeptiert werden. Als jemand, der sich täglich mit diesem Thema beschäftigt: Ist es besser geworden?

Man muss leider sagen, dass es auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung in Deutschland immer noch sogenannte No-Go-Areas gibt, in denen Menschen, die sichtbar einer Minderheit angehören, sich nicht sicher fühlen können. Das betrifft vor allem den ländlichen Raum Ostdeutschlands. Aber das gibt es auch im Westen, zum Beispiel in Dortmund oder in Teilen von Berlin.

Der Sprecher der Amadeu Antonio Stiftung, Robert LüdeckeBild: picture-alliance/dpa/B. Settnik

Das ist natürlich ein großes Versäumnis der Wiedervereinigung: Es wurde nicht geschafft, das in den letzten 30 Jahren aufzubrechen. Was auch nicht geschafft wurde, war, der rechtsextremen Szene in Deutschland einen deutlichen Dämpfer zu verpassen. Trotzdem muss man auch sagen, dass es natürlich Unterschiede gibt, denn damals hat es einfach niemanden interessiert, wenn Menschen getötet wurden wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Religion.

Das hat sich massiv geändert. Jetzt haben wir eine breite Zivilgesellschaft, wir haben Opferberatungsstellen, wir haben NGOs, Bürgerinitiativen, die wirklich ganz, ganz klar dagegenhalten. Das ist der große Unterschied und natürlich eine gute Entwicklung.

Die Amadeu Antonio Stiftung wurde 1998 gegründet. Sie setzt sich für Demokratie und gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ein.

Das Interview führte Hugo Flotat-Talon.

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