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Politik

Brasilien: Fünf Jahre alt und schon tot

5. Juni 2020

Brasilien trauert. Inmitten der Coronakrise durchlebt das Land seine Version von "Black Lives Matter". Der Tod eines fünfjährigen schwarzen Jungen in Recife hat die Diskussion über Rassismus im Land neu entfacht.

Screenshot El Pais Brasilien
Todesopfer Miguel auf der Titelseite der Tageszeitung "El País" (brasilianische Ausgabe)

"Während in den sozialen Medien der Hastag #blacklivesmatter abgeht, haben wir in Brasilien ein weiteres schwarzes Kind wegen des tief in der Gesellschaft verwurzelten Rassismus verloren", kommentiert die Historikerin Larissa Ibumi den Tod von Miguel Otávio Santana da Silva. "Es sind immer noch dieselben kolonialen Strukturen, die schwarze Frauen zu Dienerinnen weißer Herrinnen herabwürdigen."

Der tragische Vorfall ereignete sich am 3. Juni in Recife, Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Pernambuco. Die Hausangestellte Mirtes Renata Souza erschien in einer luxuriösen Wohnanlage zur Arbeit. Da wegen Corona die Schulen geschlossen sind, brachte sie ihren fünfjährigen Sohn Miguel Otávio Santana da Silva mit.

Auf Anweisung ihrer Arbeitgeberin Sarí Gaspar Côrte Real führte Souza die Hunde aus. Sie ließ ihren Sohn in der Wohnung. Als dieser zu seiner Mutter wollte, ließ ihn die Arbeitgeberin alleine in den Fahrstuhl steigen.

Anklage: Fahrlässige Tötung

Interne Kameraaufnahmen der Wohnanlage dokumentieren, wie der Junge kurz darauf im 9. Stock aussteigt und auf ein Gitter im Flur klettert. Wenige Minuten später stürzt er in die Tiefe und ist tot. Die wegen fahrlässiger Tötung angeklagte Arbeitgeberin befindet sich nach einer Kautionszahlung in Höhe von umgerechnet 3450 Euro wieder auf freiem Fuß. 

"Ich wünschte, ich könnte sterben und ihm mein Leben geben": Mirtes Renata Souza, Mutter von Miguel, auf der Titelseite (links) der Tageszeitung "Diario de Pernambuco". In der Mitte ihre Arbeitgeberin Sarí Gaspar Côrte Real mit blonden Haaren

In einem Interview mit dem brasilianischen TV Sender Globo erklärte die Mutter von Miguel: "Meine Arbeitgeberin hat mir schon oft ihre Kinder anvertraut. In dem Moment, wo ich ihr meinen Sohn anvertraut habe, hatte sie leider keine Geduld, sich um ihn zu kümmern und ihn aus dem Fahrstuhl herauszuholen."

Es war der einzige Sohn von Mirtes Renata Souza. Nach dem Tod entluden sich Trauer, Erschütterung, aber auch Hass und Wut in den sozialen Netzwerken. Unter dem Hashtag #justicapormiguel (Gerechtigkeit für Miguel) äußerten sich Politiker und Aktivisten aus ganz Brasilien. Eine entsprechende Online-Petition erreichte in weniger als 24 Stunden mehr als 680.000 Unterschriften.

Die Popsängerinnen IZA kommentierte auf ihrem Twitteraccount mit 2,5 Millionen Followern: "Die Geschichte von Miguel ist leider eine reale Tragödie. Während die Mutter den größten Schmerz durchleidet, zahlt die Hausherrin Sarí eine Kaution und kann frei nach Hause gehen. Was, wenn das Gegenteil passieren würde?" 

"Verfluchte Oberschicht"

Die Rapperin, Schriftstellerin und Aktivistin Joyce Fernandes schrieb auf Facebook und Instagram: "Ein junges Leben wurde von dieser verfluchten elitären weißen und dekadenten Oberschicht beendet, die alles mit dem Geld kauft, das sie von den Herrschaften, die meine Vorfahren versklavt haben, geerbt haben."

Joyce Fernandes, die in Brasilien unter dem Künstlernamen "Preta rara" (Die seltene Schwarze) auftritt, wird von Millionen schwarzen Brasilianerinnen verehrt. Bis 2009 arbeitete sie selbst als Hausangestellte. Sie gründete die Facebook Seite "Eu, empregada doméstica" (Ich, die Hausangestellte), und schrieb das gleichnamige Buch. Mittlerweile tritt die Aktivistin häufig in TV-Shows auf. 

Die ehemalige Hausangestellte und Aktivistin Joyce Fernandes: "Ich hasse Sarí Gaspar und alle, die so sind wie sie" Bild: Getty Images/AGP/N. Almeida

"Typische Missachtung"

Der Nationale Verband der Hausangestellten unterstrich in einem Statement die Fahrlässigkeit der Arbeitgeberin Sarí Gaspar Côrte Real: "Es handelt sich um die typische Missachtung und Verdinglichung des Lebens schwarzer Brasilianer. Das sagt viel aus über unser Land, das Erbe der Sklaverei und den nicht überwundenen Rassismus."

Erst vor fünf Jahren, am 1. Juni 2013, trat in Brasilien ein Gesetz in Kraft, das Hausangestellte erstmals rechtlich mit anderen Arbeitnehmern gleichstellte, die sogenannte "PEC das empregadas". Hausangestellte galten bis dahin als Arbeitnehmerinnen zweiter Klasse, sie konnten zum Beispiel keine Ansprüche auf Überstunden oder Arbeitslosengeld geltend machen.

Corona und die brasilianische Klassengesellschaft

Trotz gesetzlicher Gleichstellung hält in der Praxis die Diskriminierung von Hausangstellten in Brasilien an. In der Coronakrise wurde dies besonders deutlich. So war das erste COVID-19-Opfer in Rio de Janeiro eine Hausangestellte.

Viel Arbeit, schlechte Behandlung: Für Hausangestellte in Brasilien gehört Diskriminierung zum Alltag Bild: Getty Images/AFP/M. Pimentel

Die 63-jährige Cleonice Gonçalves, Diabterikerin, hatte sich bei ihrer Arbeitgeberin angesteckt, die im März Urlaub in Italien gemacht und sich dabei infiziert hatte. Sie ließ sich nach ihrer Rückkehr testen, teilte das Ergebnis der Hausangestellten jedoch nicht mit. Gonçalves starb am 19. März in einem Krankenhaus in einem Vorort von Rio.

Arbeiten trotz Corona

Auch die Arbeitgeber der Hausangestellten Mirtes Renata Souza in Recife waren mit Corona infziert. In einem selbst aufgenommenen Video vom 22. April hatte Sérgio Hacker, Ehemann von Sarí Gaspar Côrte Real und zugleich Bürgermeister einer Stadt in der Nähe von Recife, erklärt, dass er und seine Frau positiv auf COVID-19 getestet worden seien. Trotzdem wurde die Hausangestellte nicht von der Arbeit freigestellt.

Viele Brasilianer zweifeln daran, dass das Ehepaar wirklich zur Verantwortung gezogen wird. "Man sollte sich keinen Illusionen hingeben", schreibt der Abgeordnete Túlio Gadêlha aus Recife auf Twitter.

Der Jura-Professor sitzt für die sozialdemokratische Partei PDT im Parlament in Brasília. "Die Familien Côrte Real e Hacker verfügen in der Politik Pernambucos über viel Macht und Einfluss. Es wird sich zeigen, dass Pernambuco immer noch unter dem Kommando von Oligarchien steht."

Für den Leser der Tageszeitung "Folha de S.Paulo" Marcos Garcia offenbart die Tragödie den in Brasilien unausgesprochenen latenten Rassismus: "Wäre der Sohn der weißen Hausherrin gestorben, befände sich die Hausangestellte bereits hinter Gittern und würde im Internet beschimpft. Was für ein brutales Land!"