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"Der Firnis der Zivilisation ist dünn"

Felix Schlagwein
27. Januar 2019

Marco Kühnert ist Historiker und vermittelt die Geschichte der Konzentrationslager. Im DW-Interview erklärt er, wie er mit dieser Belastung umgeht, und warum ihn der wachsende Antisemitismus in Europa nicht verwundert.

Hamburg KZ Neuengamme
Bild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Marco Kühnert leitete von 2004 bis 2017 regelmäßig pädagogische Veranstaltungen in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Seit 2017 ist er Leiter des Hamburger Schulmuseums. DW-Autor Felix Schlagwein hat mit dem Historiker gesprochen, um zu erfahren, wie man mit der Belastung, die eine solche Aufgabe als Gedenkstättenpädagoge mit sich bringt, umgeht. 

DW: Herr Kühnert, wie hält man es aus, täglich mit den nationalsozialistischen Verbrechen konfrontiert zu werden?

Marco Kühnert: Ich bin auf jeden Fall nicht darum herum gekommen, eine Strategie zu entwickeln. Ohne geht es nicht. Bevor ich 2004 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme anfing, habe ich Führungen in der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" gemacht. Das hat mich sehr belastet und sowohl mein Berufs- als auch mein Privatleben negativ beeinflusst. Ich habe mich dann einer berufsbezogenen Supervision unterzogen, was mir sehr geholfen hat, und ohne die ich auch nicht in der Gedenkstätte hätte arbeiten können.

Welche Maßnahmen haben Sie konkret getroffen?

Ich habe angefangen, darauf zu achten in welcher Verfassung und Tagesstimmung ich mich befinde und mir bewusst zu machen, welche inhaltlichen Aspekte meiner Arbeit mir besonders zu schaffen machen. Diese habe ich dann – anstatt sie wie zuvor obsessiv zu thematisieren – auch ab und zu weggelassen und bin auf andere Punkte eingegangen. Auch die Atmung ist wichtig. Darauf bewusst zu achten hilft, sich selbst zu beruhigen und zu versachlichen. Insgesamt hat sich mein Arbeitsansatz mit der Zeit verändert. Ich bin von einem sehr emotional auftretenden zu einem sachlicher auftretenden Gedenkstättenpädagogen geworden. Das hat mir geholfen, meine Arbeit nach Feierabend nicht mit nach Hause zu nehmen.

Häftlinge des KZ Neuengamme bei der Arbeit unter Aufsicht von SS-Wachleuten.Bild: KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Sie vermitteln Geschichte an Jung und Alt. Macht es einen Unterschied, ob Sie die Geschichte des Holocaust einem 14-Jährigen oder einer 70-Jährigen nahebringen?

Das Alter ist nur ein Kriterium von vielen. Denn auch 14-Jährige sind nicht alle gleich. Dasselbe gilt für ältere Menschen. Mein Ansatz ist – und das klingt jetzt sehr sozialdemokratisch – die Leute dort abzuholen, wo sie gerade stehen. Das bedeutet: Ich versuche ihre Lebenssituation zu erfassen, soweit das möglich ist, und dann zu schauen, was die Besucher von mir erwarten. Ältere Leute wollen oft vortragsartig möglichst viele Informationen von mir bekommen. Jüngere Leute halten das meist kaum länger als zehn Minuten aus.

Bei Veranstaltungen mit Jugendlichen ist mir aufgefallen, dass es oft eine bestimmte Sache ist, die plötzlich ihr Interesse weckt. Zum Beispiel Mädchen, die bei dem Besuch der Gedenkstätte auf die Situation von Frauen und Mädchen in den Konzentrationslagern aufmerksam werden. Dann steht plötzlich eine ganze Gruppe junger Mädchen um mich herum und fragt: "Wie war das damals im Lager mit Menstruation? Wie war das mit Hygiene? Wie war das mit sexueller Gewalt?" Es ist wichtig, vor allem jüngeren Menschen Raum zu lassen, damit sie sich umschauen können und vielleicht Unterthemen entdecken, die sie dann an das Thema insgesamt heranführen.

Historiker und Gedenkstättenpädagoge Marco KühnertBild: Marco Kühnert

Viele Menschen fordern, einen Schlussstrich unter die Geschichte des Holocaust zu ziehen. Gleichzeitig steigt die Anzahl antisemitischer Straftaten in vielen Ländern Europas. Braucht es neue Ansätze in der historischen und politischen Bildungsarbeit?

Diese Entwicklungen machen mich betroffen und auch wütend. Ich bin aber – und das ist eigentlich viel schlimmer – kein bisschen überrascht davon. Und das macht mich nachdenklich. Ich stehe nicht davor und denke: "Wie kann das nach Jahrzehnten der politischen Bildungsarbeit noch passieren?". Ich denke, der Firnis der Zivilisation ist dünn und bestimmte Dynamiken, Prozesse und Mechanismen – als solche begreife ich Rassismus und Antisemitismus eher als als ein individuelles Vorurteil – brechen sich immer wieder Bahn. In Zeiten, in denen sie entsprechend angestachelt werden, umso mehr.

Und was kann man dagegen tun?

Die Bundesländer müssen dringend neue Strategien entwickeln und in den Schulen müssen gegenwärtiger Rassismus und Antisemitismus besprochen werden. Oft werden sie dort nämlich als rein historische Phänomene verhandelt. Außerdem wäre es wichtig, den Nahost-Konflikt ausführlich und ausgewogen zu unterrichten, denn viele antisemitische Übergriffe legitimieren sich heute auf diesem Hintergrund. Junge Menschen müssen verstehen, dass ein Angriff auf Juden oder jüdische Einrichtungen hierzulande, der in irgendeiner Weise durch den Nahost-Konflikt motiviert ist, ein rein antisemitischer Vorgang ist. Denn dahinter steht, dass man einen hier lebenden Juden in Mitverantwortung nimmt für die Politik der israelischen Regierung, die man nicht richtig findet.

Könnte der verpflichtende Besuch einer KZ-Gedenkstätte mit der Schulklasse eine zusätzliche Maßnahme sein?

Die Debatte, die Anfang letzten Jahres über diese Frage geführt wurde, fand ich sehr interessant. Da sind sehr gute und ernst zu nehmende Positionen vertreten worden. Es ist eine Frage, die man nur schwer mit einem Ja oder einem Nein beantworten kann. Es gibt da in den Bundesländern verschiedene Ansätze. In Bayern ist der Besuch einer KZ-Gedenkstätte landesweit im Lehrplan verankert. Hier in Hamburg ist es nicht flächendeckend, aber trotzdem fester Bestandteil vieler einzelner Schulcurricula.

Das KZ Neuengamme bei Hamburg in den 1940er Jahren. Von den etwa 100.000 Häftlingen überlebten weniger als die Hälfte.Bild: KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Einen Besuch verpflichtend festzuschreiben, halte ich eher für kontraproduktiv. Wir sollten uns lieber fragen: Wie wird ein solcher Besuch vor- und vor allem nachbereitet? Wie wecken wir das Interesse? Wie können wir neue und bessere Unterrichtsformen für das Thema finden? Ich denke nämlich nicht, dass das Thema zu viel behandelt wird – diese Position hört man ja auch. Ich glaube, es wird häufig nicht gut genug vermittelt. Wichtig ist dabei, dass Lehrerinnen und Lehrer das Thema nicht zu stark emotionalisieren und moralisieren. Denn das könnte dazu führen, dass die Schüler eine eher abwehrende Haltung entwickeln.

Das Gespräch führte Felix Schlagwein.

Im Hamburger Schulmuseum, das Marco Kühnert leitet, findet anlässlich des Holocaust-Gedenktages vom 28. Januar bis 22. März die Sonderausstellung "Im Schatten von Auschwitz" des Fotografen Mark Mühlhaus und der Bundeszentrale für Politische Bildung statt.

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