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Kriminalität

Rechtsextremismus: Hessen ist überall

27. Februar 2020

Neun Tote in Hanau, der Mord an Walter Lübcke, Schüsse auf einen Asylbewerber - und alles geschah im selben Bundesland. Es hätte aber überall passieren können. Marcel Fürstenau erläutert, warum.

Hanau | Solidaritätsbekundung nach Schießerei
Trauer um die Opfer des rassistischen Attentats in Hanau Bild: Getty Images/AFP/P. Hertzog

Sondersitzungen des Bundestages sind bei Politikern alles andere als beliebt. Denn viele Abgeordnete müssen dafür extra nach Berlin reisen, weil sie in sitzungsfreien Wochen des Parlaments in ihren über ganz Deutschland verteilten Wahlkreisen unterwegs sind. Mitglieder des Innenausschusses mussten am Donnerstag mal wieder ihre Terminpläne kurzfristig ändern - wegen einer Sondersitzung. Der Anlass: das rassistische Attentat in Hanau am 19. Februar.

Eine Woche nach dem Massaker informierten Innenminister Horst Seehofer und Generalbundesanwalt Peter Frank hinter geschlossenen Türen über den aktuellen Stand der Ermittlungen. Offiziell drang, wie immer, nichts nach draußen. Ob der mutmaßliche Täter Tobias R. ein Einzeltäter war oder vielleicht doch Teil eines Netzwerks - auch dazu war nichts Neues zu erfahren. Unübersehbar bleibt allerdings, dass auch dieses Attentat in Hessen geschah. Ein kurzer Rückblick:           

Walter Lübcke, Regierungspräsident im Bezirk Kassel, wurde von dem mutmaßlichen Neonazi Stephan E. ermordet Bild: picture-alliance/U. Zucchi
  • 2. Juni 2019: Der Christdemokrat Walter Lübcke wird auf der Terrasse seines Hauses in der Kleinstadt Wolfhagen in der Nähe von Kassel mit einem Kopfschuss geradezu hingerichtet. Das Motiv des mutmaßlichen Täters: Hass auf einen Politiker, der sich für Flüchtlinge engagierte.  
  • 22. Juli 2019: Ein junger Mann aus Eritrea wird in Wächtersbach nordöstlich von Frankfurt durch sechs Schüsse aus einem fahrenden Auto lebensgefährlich verletzt. Der Asylbewerber wird in einer Notoperation gerettet, während sich der mutmaßliche Täter selbst tötet. 
  • 19. Februar 2020: Neun Menschen mit ausländischen Wurzeln werden in Hanau erschossen. Der mutmaßliche Täter hinterlässt ein wirres rassistisches Manifest und nimmt sich das Leben.
Der mutmaßliche Attentäter von Hanau ermordete seine Opfer an mehreren Orten, unter anderem in dieser Shisha-BarBild: Reuters/R. Orlowski

Drei rechtsextremistische Gewaltverbrechen mit vielen Toten in wenigen Monaten. "Was ist los in Hessen und wie sind die Morde einzuordnen?", fragen sich auch die Experten vom Demokratiezentrum Hessen an der Universität Marburg. Dort engagiert man sich schon lange gegen Rechtsextremismus und koordiniert seit 2011 landesweit alle Aktivitäten. Leiter Reiner Becker hält sein Bundesland aber trotz des Attentats in Hanau nicht für die "Hochburg des organisierten Rechtsextremismus".

Rechter Terror: 1980 München, 1992 Mölln, 1993 Solingen

Überhaupt lehnt er Verallgemeinerungen ab. Auch Ostdeutschland, also das Gebiet der früheren DDR, sei nie der "Hotspot" gewesen, sagt Becker im DW-Interview. Zwar habe es dort "markante Ereignisse" gegeben, als Entlastung für den Westen lässt er das jedoch nicht gelten. Der Experte verweist auf langjährige rechtsextremistische Strukturen und "Vorkommnisse" in der alten Bundesrepublik. Ein Blick in die Geschichte gibt ihm Recht:

In diesem Haus in Solingen starben durch einen rechtsextremistischen Brandanschlag fünf Menschen Bild: Imago/Tillmann Pressephotos
  • Fünf türkischstämmige Bewohner eines Hauses in Solingen (Bundesland Nordrhein-Westfalen) kommen 1993 bei einem Brandanschlag ums Leben. Außerdem werden 17 Menschen verletzt.
  • 1992 sterben in Mölln (Bundesland Schleswig-Holstein) ebenfalls durch Brandanschläge auf zwei Häuser mit türkischen Bewohnern drei Menschen, neun erleiden teilweise schwere Verletzungen.
  • Und schon 1980 reißt ein Rechtsextremist mit einer Bombe auf dem Münchner Oktoberfest zwölf Menschen und sich selbst in den Tod, über 200 werden verletzt.       
Beim folgenschwersten rechtsextremistischen Attentat starben 1980 zwölf Menschen und der Attentäter auf dem Münchner Oktoberfest Bild: picture-alliance/dpa/D. Endlicher

Und nun Hanau. Eine Tat, die überall hätte passieren können, mutmaßt Rechtsextremismus-Experte Becker nicht nur unter dem Eindruck der bisherigen Erkenntnisse. Im Moment spricht fast alles für einen Einzeltäter, der sich im Internet radikalisiert hat. So wie der mutmaßliche Todesschütze von Halle (Bundesland Sachsen-Anhalt), der nach seinem misslungenen Anschlag auf die Synagoge der Stadt zwei Zufallsopfer ermordete. 

Auch ein NSU-Opfer wurde in Hessen ermordet

Der Hanauer Rechtsextremist Tobias R., gibt Becker zu bedenken, "hätte 15 Kilometer weiter im Bayrischen sitzen können". In jenem Bundesland also, wo zwischen 2000 und 2007 fünf von zehn Opfern der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) erschossen wurden. Die Täter – Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos – stammten indes aus dem ostdeutschen Thüringen.

Halit Yozgat war das neunte von zehn Mord-Opfern der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) Bild: picture-alliance/dpa

Dass sie sich bei ihrer Mordserie auf ein weit verzweigtes Helfer-Netzwerk verlassen konnten, wurde in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und während des NSU-Prozesses deutlich. Trotzdem blieb die Bundesanwaltschaft bei ihrer umstrittenen These, das Trio habe im Kern allein gehandelt. Reiner Becker vom Demokratiezentrum Hessen hält das auch mit Blick auf das hessische NSU-Opfer Halit Yozgat für abwegig und widerlegt. Der 21-Jährige wurde 2006 in seinem Internetcafé in Kassel erschossen.   

Ein fragwürdiger Verfassungsschützer in Kassel

Der Fall wirft bis heute ungeklärte Fragen auf, weil sich zur Tatzeit ein Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in dem Laden aufhielt.  Becker ist davon überzeugt, dass die NSU-Mörder auch in Kassel in ein Netzwerk eingebunden waren. Das Trio um die zu lebenslänglicher Haft verurteilte Beate Zschäpe lebte 13 Jahre im Untergrund. In der rechtsextremen Szene seien die drei "gefeiert" worden. Und man habe noch nicht einmal alles über sie wissen müssen, "wenn man mal die Wohnung für eine halbe Woche zur Verfügung stellt". Diese Art von Unterstützung zeichnet nach Beckers Einschätzung Netzwerke aus.

Rechtsextremismus-Experte Reiner Becker: Hessen keine "Hochburg"

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Schon 2006 erforschte der Politologe und Soziologe die Strukturen rechtsextremistischer Milieus. In Studien untersuchte er die Anfälligkeit vor allem junger Menschen für Nazi-Ideologie. Ein wesentlicher Befund: Konzerte und Demonstrationen seien "Kontaktbörsen", wo die Szene zusammenkomme. "Dann kann man schon von einem Netzwerk sprechen", sagt Becker.      

"Hohe Gewaltbereitschaft" bei Neonazis

Wenn allerdings Sicherheitsbehörden mit einem Instrumentarium arbeiteten, das sich ausschließlich auf straff organisierte, sichtbare rechtsextreme Strukturen beziehe, "dann kommt man natürlich nicht weiter". Aber dieser Ansatz verflüchtige sich gerade, stellt Becker bei den Sicherheitsbehörden einen Paradigmenwechsel fest. 

Im Bericht des hessischen Verfassungsschutzes wird das "rechtsextremistische Personenpotenzial" mit 1475 beziffert. Allerdings ist das die Zahl für 2018. Ein Jahr zuvor waren es zehn weniger. Über die Gefährlichkeit der Szene sagt das allerdings nur wenig aus. Allgemein wird vor allem Neonazis eine "hohe Gewaltbereitschaft" attestiert. Organisiert seien sie überwiegend durch "regional lose strukturierte Gruppierungen".

"The Aryans" sind auch in Hessen fest verankert

Eine Ausnahme bildet die Kameradschaft "The Aryans" (deutsch: Arier). Sie ist überregional und länderübergreifend vernetzt. Seit 2018 ermittelt die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gegen sechs ihrer Mitglieder, die aus Bayern stammen - und aus Hessen. Sie werden verdächtigt, eine terroristische Vereinigung gegründet zu haben. Medienberichten zufolge sollen schon im Herbst 2018 in mehreren hessischen Städten Hausdurchsuchungen stattgefunden haben.

Wahlspruch der Neonazi-Gruppe "The Aryans" (Arier): "Support your Race" (deutsch: "Unterstütze Deine Rasse")Bild: Imago Images/Zuma/S. Babbar

Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft wollte die Berichte auf DW-Anfrage weder bestätigen noch dementieren. Auch Fragen nach weiteren Details blieben unbeantwortet. Er teilte lediglich mit, dass die Ermittlungen weiterliefen. Anhaltspunkte für die Gefährlichkeit der "Aryans" lieferte derweil im November 2019 die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken. Demnach war die Neonazi-Gruppe innerhalb von zwei Jahren zwölfmal Thema im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ). Hessen, scheint es, wird sein Problem mit Rechtsextremismus so schnell nicht los. Das gilt aber auch für alle anderen Bundesländer. 

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland