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Politik

"Rechtsextremismus ist ein gesamtdeutsches Problem"

28. August 2018

Jagd auf Ausländer, Naziparolen, Ausschreitungen. Doch das ist nur die Spitze einer demokratiefeindlichen Bewegung, die ein breites Fundament in der Gesellschaft hat, sagt Publizist Michel Friedman im DW-Gespräch.

Deutschland Demonstration der rechten Szene in Chemnitz
Bild: picture-alliance/dpa/J. Woitas

Deutsche Welle: Herr Friedman, Sie warnen seit langem vor den Folgen "geistiger Brandstiftung" und mahnen mehr Toleranz in der Gesellschaft. Wie wehrhaft sehen Sie die Demokratie in Deutschland, angesichts der aktuellen Bilder aus Chemnitz?

Michel Friedman: Ich bin zutiefst besorgt und beunruhigt. Was wir sehen und erleben, ist nur die Spitze einer demokratiefeindlichen Bewegung, die ein breiteres Fundament in der Gesellschaft hat, als wir uns vorstellen wollen. Die Demokratie ist wehrhaft, aber an einigen Stellen versagt sie. In Sachsen sind weder die jetzige noch vorige Landesregierungen deutlich genug gegen Rassismus, Juden- und Menschenhass oder gegen rechtsextremistische Gruppen vorgegangen. Antidemokratische Kräfte, die die Substanz eines liberalen, humanistischen Lebens in einer pluralen Welt zerstören wollen. Wenn man heute von Chemnitz redet, muss man an Hoyerswerda und Rostock erinnern - auch damals gab es eine Menschenjagd. Dass Menschen in einem demokratischen Rechtsstaat gejagt werden, nur weil sie anders aussehen, zeigt, dass zumindest in Teilen von Sachsen viel Nachholbedarf vorhanden ist. In Sachsen glauben einige, dass sie mittlerweile die Polizei ersetzen können oder dürfen. Chemnitz ist keine Überraschung. Es ist nicht plötzlich passiert - schon vor Monaten hat es woanders große Auseinandersetzungen mit Menschenhassern und Rechtsextremisten, mit Verbrechern, gegeben. Auch da hat es sehr lange gedauert, bis die sächsische Justiz in aller Härte durchgegriffen hat und am Ende musste die Bundesstaatsanwaltschaft übernehmen.

Ist das ein überwiegend ostdeutsches, bzw. sächsisches Problem?

Publizist und Fernsehmoderator Michel FriedmanBild: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Wer das Problem des Rechtsextremismus in Sachsen und den neuen Bundesländern verortet, macht es sich zu leicht. Das ist natürlich ein gesamtdeutsches Problem und es ist kein neues Phänomen. Nach 1945 hat es nie diese Stunde Null im Bezug auf den Rassismus, Juden- und Menschenhass gegeben. Die Kräfte, die eine Hitler-Nostalgie in Deutschland fortgesetzt haben, sind allerdings in der dritten Generation angekommen. Das heißt, die Enkel der Nazigeneration haben Nachfolger. Das ist auch nicht nur ein deutsches Problem - wir können es in ganz Europa sehen. In vielen Ländern - Ungarn, Polen - merkt man, die Menschenfeinde sind nicht nur auf der Straße erfolgreich, sondern auch politisch - es sind Regierungschefs. Sie sind, wie in Österreich, Mitglieder der Regierung. Die AfD ist in Deutschland zum ersten Mal nach 1945 als eine für mich rechtsextremistische Partei, bei der in Teilen die Funktionäre Hetzer sind, im Bundestag. Wir müssen uns auch 80 Jahre nach der Pogromnacht die Frage stellen, an welchem Punkt der Gewalt befinden wir uns momentan? Wir müssen es deutlich sehen: eine Enthemmung, eine Unverschämtheit, eine geistige Brandstiftung, eine tatsächliche Brandstiftung. Wenn man ins Netz geht, merkt man, wie viel Aggression vorhanden ist.

Sie sagen, Rechtsextremismus ist ein gesamteuropäisches Problem. Welche Rolle hat Deutschland bei dieser Entwicklung?

Wenn wir über Rassismus und Menschenfeindlichkeit sprechen, ist es ein universelles Thema - in der ganzen Welt aktuell. Wenn wir über Deutschland sprechen, dann reden wir tatsächlich über ein Land, das verantwortlich und schuldig für die Endpunkte der Gewalt ist. Hier sieht man, wohin es führt, wenn eine Gesellschaft sich nicht selbst schützt. Es gibt hier Menschen, die meinen, dass die Würde des Menschen antastbar ist. Das sind nicht nur Rassisten, sondern Feinde der Demokratie und des Grundgesetzes. Das ist etwas, was mittlerweile zu einem ernsten Thema mit einer politischen Dimension geworden ist, weil wir diese Menschen als geistige Brandstifter teilweise in den Parlamenten haben.

Zu solchen Wellen der Aggression, wie aktuell in Chemnitz, kommt es immer wieder. Wie sehr ist unsere Wehrhaftigkeit hier gefährdet?

Ich warne davor zu glauben, dass es Wellen sind. Wir sehen es in letzter Zeit immer häufiger und aggressiver, was da für ein Potential existiert. Nach allen wissenschaftlichen Umfragen der EU haben wir in allen Ländern, auch in Deutschland, ein solches Potential von 15 bis 20 Prozent. Der Großteil davon ist latent, aber die Mobilisierung dieser latenten Gruppe ist so "erfolgreich", wie in der EU eigentlich noch nie.

In dieser EU gab es noch nie so viele Regierungen - also die, die für den Schutz der Demokratie, also Schutz der Minderheiten, verantwortlich sind -, die so ein gespaltenes Verhältnis zum Rechtsstaat hatten, die in ihren Wahlkämpfen gegen Fremde hetzen. Wir reden mittlerweile von legitimierter und legalisierter rassistischer Arbeit von den Vorbildern und Regierungen. Wenn die das tun, dann fühlt sich ein Mensch, der in diesem Land lebt, eher ermutigt als entmutigt, sein Gift zu verstreuen.

Was müssen wir 80 Jahre nach der Nazi-Ära tun, um diese Entwicklung zu stoppen?

Ich möchte hier mit aller Klarheit betonen, die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Rechtstaat, der bei allen Schwächen, die wir zu diskutieren haben, in seiner staatsrechtlichen Substanz und im überwiegenden Teil der Bevölkerung mit seiner demokratischen Idee gelebt und geschätzt wird. Aber das Problem der Extremisten ist nicht, ob sie die absolute Mehrheit gewinnen. Auch im Jahre 1933 hatte die NSDAP nicht die eigene Mehrheit. Die Frage ist: Wie laut sind die Demokraten, die für diese Demokratie werben? Ich engagiere mich nicht gegen eine AfD, ich engagiere mich primär für eine Demokratie.

Ich glaube, das Universelle, das wir aus der Geschichte lernen können, ist: Es gibt immer viele Anfangspunkte der Gewalt, bevor es einen Endpunkt gibt. Wenn es den Endpunkt gibt, sagen viele Menschen erschrocken: Das haben wir nicht gewollt. 

Das Gespräch führte Rosalia Romaniec.

Michel Friedman ist Jurist, Publizist und Fernsehmoderator. Er war von 2000 bis 2003 stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. An der Frankfurt University of Applied Sciences ist er Professor für Immobilien- und Medienrecht. Außerdem leitet er dort ein Forschungszentrum für Europafragen und ist einer von vier Direktoren des 2016 gegründeten "Centers for Applied European Studies". Bei der Deutschen Welle moderiert er die Talk-Formate "Conflict Zone" und "Auf ein Wort... mit Michel Friedman".

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