Die digitale Welt der sozialen Medien ist grell und schnell: Wer auffällt, den spült sie nach oben - Donald Trump, Elon Musk, Javier Milei - ihre Ballsäle, Weltraumraketen, Kettensägen bestimmen die Schlagzeilen. Der Zeitgeist wird zugespitzt auf wenige schillernde Köpfe.

Wie eine Antithese aus einer analogen Welt wirkt da ein Menschenschlag, der wenig Aura für schlagzeilenträchtige Stories versprüht: die gesellschaftliche Mitte.

Aber weil die das Rückgrat jeder demokratischen und offenen Gesellschaft ausmacht, untersuchen renommierte deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit fast zwanzig Jahren für die Friedrich-Ebert-Stiftung, wie diese Mitte tickt. Wie ihre Haltung ist zu Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder auch Sozialdarwinismus. Die Studie will ein Seismograph sein für gesellschaftliche Zustände, für deutsche Zustände. Sie will eine Art Frühwarnsystem für demokratiefeindliche, menschenfeindliche Entwicklungen sein. 

Stabile, aber angespannte Mitte

Die aktuellen Ergebnisse sind widersprüchlich und doch vielsagend. In den Worten der Autorinnen und Autoren: Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland ist angespannt. 

"Die Mitte ist stabiler geworden. Sie hat die Zustimmung zum Rechtsextremismus gebremst", fasst Andreas Zick die sogenannte "Mitte-Studie" im Gespräch mit der DW zusammen. Zick ist Leiter des Institut für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und einer der renommiertesten Sozialforscher Deutschlands. 

Er und ein großes Forschungs-Team haben 2000 Menschen in Deutschland intensiv befragt. Die Stichprobe bildet einen repräsentativen Querschnitt der deutschen Gesellschaft ab - was ihr Verhalten bei Wahlen betrifft, ihre Bildung, ihr Einkommen, ihre Herkunft. 

Rechtsextremismus rückläufig

Und entgegen allen schrillen Tönen auf den Plattformen der sozialen Medien und auch entgegen allen Erwartungen angesichts des Aufstiegs der in Teilen rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland, AfD, ist der manifeste Rechtsextremismus in Deutschland rückläufig: Nur drei Prozent aller Deutschen hat demnach ein festes rechtsextremes Weltbild - das ist deutlich weniger als in der Vergangenheit. "Die liberale Demokratie gibt den meisten Menschen Halt und stärkt die Ablehnung von Extremismus", erklärt Andreas Zick.

Ein großer Teil der Gesellschaft sieht Demokratie und Vielfalt positiv: 70 Prozent der Befragten sagen, dass sie es bedrohlich finden, dass Rechtsextremismus zunimmt - obwohl er in Wirklichkeit abnimmt. Und über 50 Prozent aller Befragten sind bereit, sich gegen Rechtsextremismus zu engagieren. 

Die Ergebnisse der "Mitte-Studie" sind auch ein Korrektiv, was mediale Zerrbilder von der deutschen Gesellschaft betrifft. So ist die allgemeine Wahrnehmung falsch, dass in Ostdeutschland mehr Menschen mit rechtsextremem Weltbild leben als im Westen des Landes. Zwar ist zum Beispiel Fremdenfeindlichkeit im Osten stärker verbreitet als im Westen, aber ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben sogar im Westen der Republik etwas mehr Menschen als im Osten. Ein solches Weltbild liegt vor, wenn Menschen nicht nur in einzelnen Fragen menschenfeindliche oder demokratiefeindliche Ansichten haben, sondern ihr gesamtes Weltbild durch sie geprägt wird.

Trotz aller gesellschaftlich erfreulicher Nachrichten: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachten die gesellschaftliche Mitte in einem Spannungsfeld. "Wir müssen die Frage stellen: Wie stabil ist die Demokratie aus der Mitte heraus?"

Alarmierender Graubereich

Zick und die Macher der "Mitte-Studie" stellen einen wachsenden Graubereich fest, was die Haltung der Deutschen zu extremistischen Haltungen betrifft. "Wenn wir uns anschauen, wo Menschen in diesem Graubereich liegen, und das mit anderen antidemokratischen Einstellungen vergleichen, zum Beispiel bei Rassismus und Sexismus, dann sehen wir diese Menschen eher bei Demokratieablehnung als bei Demokratiebefürwortung." Das heißt, sie sind offen für Rechtsextremismus und für Populismus.

Und besonders alarmierend: "Das Vertrauen der Menschen in Institutionen und demokratische Prinzipien schwindet drastisch", warnt Studienmacher Andreas Zick.

Das scheint kein Wunder angesichts der Dauerfeuers einer Partei wie der AfD, die seit über zehn Jahren gegen alles und jeden feuert, der nicht ihren radikalen und immer wieder auch verfassungsfeindlichen Kampf gegen die moderne Einwanderungsgesellschaft mitkämpft.

Mit Unterstützung der Algorithmen der Tech-Milliardäre schwimmen die Angriffe gegen demokratische Parteien, gegen Justiz und Zivilgesellschaft in den Schlagzeilen erfolgreich oben. Mit KI-generierten Bildern fluten sie die deutschen Wohnzimmer mit Bildern eines Landes am Rande der Apokalypse. Die Flut ist so mächtig geworden und die Erfolge der AfD so groß, dass viele Medien immer ängstlicher - und zugleich voyeuristischer - vor demokratischen Untergangszenarien warnen: Kippt die Gesellschaft?

Autoritarismus unter jungen Menschen auf dem Vormarsch 

Für so einen Alarmismus sehen die Forscherinnen und Forscher keinen Anlass. Allerdings sind einige Entwicklungen sehr wohl alarmierend: Unter jungen Menschen ist Rechtsextremismus deutlich verbreiteter als unter älteren. Je jünger, desto ausgeprägter, so die "Mitte-Studie".

"Wir sehen, dass dezidiert rechtsextreme Versatzstücke aus der Ideologie des Nationalsozialismus übernommen werden, Diktaturbefürwortung, Antisemitismus oder der Wunsch nach einem starken Nationalgefühl", erklärt Nico Mokros im Interview mit der DW. Er ist Mitherausgeber der "Mitte-Studie" und auf die Erforschung von extremistischen Einstellungen unter jungen Menschen spezialisiert. 

Besonders bemerkenswert ist für Mokros: In der jüngeren Altersgruppe gibt es anscheinend eine große Neigung zum Autoritarismus, also dem Wunsch nach einer starken Führungspersönlichkeit, die für alle entscheidet. Gleichzeitig sind junge Menschen unzufrieden darüber, dass andere für sie entscheiden. "Da staut sich dann häufig eine Aggression auf, die sich darin ausdrückt, dass junge Menschen Minderheiten abwerten." Sie suchten sich eine Gruppe in der Bevölkerung, die ohnehin schon abgewertet wird, und nehmen diese zum Ziel ihrer Aggressionen. Die Entwicklung birgt also die Gefahr von Gewalt und Ausgrenzung gegen gesellschaftliche Minderheiten.

Gesellschaftliche Mitte ernst nehmen

Eine zentrale Botschaft haben die Studienmacher: Die Haltung der gesellschaftlichen Mitte müsse im öffentlichen Diskurs viel stärker abgebildet werden. Andreas Zick hält das derzeit für eindeutig unzureichend. "Wenn Menschen wahrnehmen, der Rechtsextremismus bedroht uns, und da passiert dann nicht genügend, dann steigt der Anteil derjenigen, die an die Funktionsfähigkeit der Demokratie nicht glauben. Das öffnet für Misstrauen, und das ist der Punkt, an dem der Extremismus und der Populismus sagen: wir haben die Lösung."