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PolitikEuropa

Polen und Ungarn ziehen vor den EuGH

12. Oktober 2021

In Luxemburg geht der Kampf um die Rechtsstaatsklausel in die letzte Runde. Es wird verhandelt, ob die EU in Zukunft Gelder stoppen kann, wenn ein Staat die Rechtsstaatlichkeit missachtet. Es geht um mehr als nur Geld.

Luxemburg Europaeischer Gerichtshof EuGH
Bild: Patrick Scheiber/imago images

Dass alle Richter des EU-Gerichtshof (EuGH) sich gemeinsam eines Falles annehmen, passiert nicht alle Tage. Nur wenn der Gerichtshof entscheidet, dass es sich um eine Rechtssache von "außergewöhnlicher Bedeutung" handelt. An diesem Montag und Dienstag war es in Luxemburg soweit: Polen und Ungarn kämpfen juristisch gegen die neue Rechtsstaatsklausel, mit dem EU-Mittel an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit geknüpft werden können. Jetzt wurden alle Beteiligten zu Anhörungen in das Luxemburger Gerichtsgebäude geladen.

Nicht nur eine Geldfrage 

Seit Jahresbeginn ist die EU-Rechtsstaatsklausel theoretisch in Kraft, blieb aber bislang ungenutzt. Hier in Luxemburg geht der Streit um den Mechanismus nun in seine letzte Phase. Dabei geht es erst einmal um Geld. Zuletzt erhielt Polen netto rund 12,4 Milliarden Euro und Ungarn knappe 4,7 Milliarden pro Jahr aus dem EU-Haushalt. Aus dem milliardenschweren EU-Wiederaufbauprogramm soll Polen 23,9 Milliarden und Ungarn 7,2 Milliarden Euro Corona-Hilfen bekommen.

Aber es geht – und das wird auch hier in Luxemburg deutlich - um mehr als nur Geld. Es geht auch um die Glaubwürdigkeit der EU. Gegen Polen und Ungarn laufen seit mehreren Jahren Rechtsstaatlichkeits-Verfahren. An deren Ende kann die Aussetzung von Stimmrechten stehen: das sogenannte Artikel-7-Verfahren.

Dieses Verfahren spielt auch bei der Verhandlung vor dem EuGH eine Rolle. Plötzlich scheint das Artikel-7-Verfahren der Polen und Ungarn liebstes Kind. Beide Staaten meinen, dass dies das einzige Verfahren zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit sein soll. Ein weiteres wie der Rechtsstaatsmechanismus würde dies umgehen und sei demnach rechtswidrig. 

Tatsächlich hat das Artikel-7-Verfahren den Schutz der Rechtsstaatlichkeit zum Gegenstand. Was Polen und Ungarn nicht erwähnen, ist sein Konstruktionsfehler. Damit Stimmrechte eines Mitgliedsstaates ausgesetzt werden können, müssen alle anderen Staats- und Regierungschefs einstimmig abstimmen. Polen und Ungarn könnten sich bei einer Abstimmung gegenseitig decken. Seitdem die Verfahren eröffnet wurden, dümpeln die Verfahren auch eher vor sich hin, als dass sie Polen und Ungarn beeindrucken würden.

Verschiedene Argumentationslinien

Der Montag, der erste Verhandlungstag, begann mit Anhörungen der klagenden Parteien: Polen und Ungarn. Sie halten die neue Regelung für einen politisch motivierten "Sanktionsmechanismus". Die angefochtene Verordnung schaffe einen Maßstab für eine rein politische Bewertung durch die EU-Kommission, sagt die polnische Regierungsvertreterin Sylwia Zyrek, um auf dieser Grundlage Sanktionen verhängen zu können. 

In ihrer Erwiderung lassen die EU-Institutionen und die anderen Mitgliedstaaten dieses Argument nicht gelten. Insgesamt haben sich zehn EU-Länder - darunter Deutschland, Frankreich und Spanien - als Streithelfer auf Brüssels Seite geschlagen. Mit geballter Kraft schießen sie gegen die Argumente Ungarns und Polens.

Belgien etwa ist einer der Staaten, der in Erinnerung ruft, dass die Einhaltung gewisser Werte, auch der Rechtsstaatlichkeit, EU-Beitrittsbedingung sei und auch danach noch gelte. Die dänische Regierungsvertreterin weist darauf hin, dass gerade das polnische Urteil von letzter Woche zeige, wie notwendig der Rechtsstaatsmechanismus sei. In diesem Urteil hat das polnische Verfassungsgericht das polnische Recht als vorrangig gegenüber dem EU-Recht erklärt. In einem sind sie sich einig: Es sei kein Sanktionsmechanismus, sondern diene allein dem Schutz des EU-Haushaltes vor Verstößen gegen die gemeinsam vereinbarten Regeln und Vorschriften.

Der Teufel steckt im Detail

Am Dienstag kamen dann die Richter zu Wort. Es wird deutlich, dass die neue Vorschrift noch einiges an Klärung braucht. Wann und wie genau soll der Mechanismus ausgelöst werden? Welche konkreten Fälle werden durch ihn abgedeckt? In knapp fünf Stunden grillten die Richter alle Parteien. Als EuGH-Präsident Koen Lenaerts fragt, ob auch das Nichtbefolgen von EuGH-Urteilen den strittigen Mechanismus auslösen könne, wird es emotional. Polen hat in der Vergangenheit Gerichtsentscheidungen des EuGH nicht angewendet, wie etwa den Beschluss, den Kohleabbau in Turow mit sofortiger Wirkung einzustellen. 

Pro EU-Demonstrationen in Warschau nach Verfassungsgerichts-UrteilBild: Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

Kommission und Rat sind sich einig, dass es sich dabei um einen "schwerwiegenden Verstoß" handele - auch wenn es deshalb nicht automatisch zu einem Einbehalten von EU-Geldern komme, da weitere Kriterien erfüllt werden müssten. 

Aber auch Polen und Ungarn müssen sich kritische Fragen der Richter gefallen lassen. Das polnische Verständnis, wonach die Auslegung des Begriffes "Rechtsstaatlichkeit" nur durch Polen selber vorgenommen werden könne, wird von mehreren Richtern hinterfragt. Die italienische Richterin Lucia Serena Rossi zeigt gewisse Zweifel an der gesamten Hauptverteidigungslinie Polens und Ungarns, wonach Rechtsstaatlichkeit lediglich im Rahmen des Artikel-7-Verfahren geschützt werden könne.

Wichtiges Urteil bald erwartet 

Die Richter werden sich nun zu Beratungen zurückziehen. Das Urteil wird in einigen Monaten erwartet. Von den EU-Institutionen wird es heiß ersehnt. Bis dahin wird der Rechtsstaatsmechanismus wohl erst einmal weiter auf Eis liegen, sehr zum Missfallen des Europäischen Parlaments. Dass es also um viel geht, werden die Richter auf dem Kirchberg wohl wissen.