Rechtstaatlichkeit in Ungarn: Die Zweifel halten an
10. Oktober 2025
Im Gefangenengürtel mit Handschellen betritt Maja T. am 8. Oktober 2025 den Gerichtssaal im Budapester 5. Bezirk. Polizisten in Sturmhauben begleiten sie, einer von ihnen schließt das Fenster, durch das "Free Maja" Sprechchöre einiger Demonstrierender in den Saal hallen. Dann beginnt ein weiterer Prozesstag in dem Verfahren gegen die mutmaßlich linksextreme Person, die laut Anklage im Februar 2023 in Budapest mehrere mutmaßliche Rechtsextreme angegriffen und schwer verletzt haben soll.
Es ist ein Verfahren, das laut dem Bundesverfassungsgericht gar nicht in Ungarn stattfinden dürfte. Karlsruhe befand, dass vor der Auslieferung nach Ungarn nicht hinreichend geprüft worden sei, ob hier menschenwürdige Haftbedingungen gesichert seien - gerade für Maja T. als nicht-binäre Person.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts habe auch gezeigt, dass es Zweifel gebe, inwiefern Maja T. einen fairen Prozess erwarten könne, so die Rechtswissenschaftlerin Petra Bard von der Central European University (CEU) in Budapest: "Sowohl aufgrund ihrer Geschlechtsidentität als auch wegen der Politisierung des Falls ist das eine offene Frage."
"Schlimmste Befürchtungen"
Im Umfeld von Maja T. macht man sich daher große Sorgen. Er habe "schlimmste Befürchtungen" bezüglich der Fairness des Prozesses, sagte Maja T.s Vater Wolfram Jarosch im Gespräch mit der DW, besonders jetzt, da Ungarns Premierminister Viktor Orban die Antifa kürzlich zur Terrororganisation erklärt habe. Rein rechtlich hat das zwar keine Auswirkungen auf den bereits laufenden Prozess. Doch Jarosch ist überzeugt: "Man sieht, dass er Druck ausübt, dass am Ende Maja richtig drakonisch bestraft wird."
Der Hintergrund: Im Februar 2023 hatte eine Gruppe so genannter Linksautonomer mutmaßlichen Neonazis aufgelauert und sie bei Angriffen mit Stangen und Hämmern teils schwer verletzt. Sowohl in Ungarn als auch in Deutschland waren in diesem Zusammenhang mehrere mutmaßliche Täter verhaftet worden, in beiden Ländern laufen die Prozesse gegen sie zum Teil noch.
Im Fall Maja T. wird ein Urteil erst im Januar erwartet. Bis dahin ist Maja T. weiter in U-Haft, wo sie laut Aussagen ihres Vaters Isolation und menschenunwürdige Behandlung ertragen müsse. Anträge auf Hausarrest seien bisher abgelehnt worden.
Gleiche Anklage, andere Umstände
Während Maja T. in Ungarn eine langjährige Haftstrafe droht, muss die als Mittäterin in dem Fall angeklagte Europa-Abgeordnete Ilaria Salis vorerst nicht mit rechtlichen Konsequenzen rechnen. Am 7. Oktober bestätigte das Europäische Parlament, dass die italienische Linken-Politikerin ihre Immunität behalten darf - anders als von der ungarischen Justiz gefordert.
Das Ergebnis folgt der Empfehlung des parlamentarischen Rechtsausschusses: Dieser sah unter anderem konkrete Anhaltspunkte, dass das Verfahren in Ungarn "von der Absicht getragen ist, der politischen Tätigkeit von Ilaria Salis in ihrer Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments zu schaden", und hatte sich deswegen gegen die Aufhebung der Immunität ausgesprochen.
Politisches Statement auf rechtlicher Basis
Die Abstimmung fiel mit 306 zu 305 Stimmen denkbar knapp aus - nicht zuletzt, weil man darüber streiten könne, ob die Immunität auch für Taten vor dem Antritt eines Mandats gelte, sagt die Juristin Julia Pöcze vom Brüsseler Think Tank Centre for European Policy Studies (CEPS) der DW.
Die Europäische Volkspartei, die die größte Fraktion im Europaparlament stellt, hatte sich öffentlich gegen eine Erhaltung von Salis' Immunität ausgesprochen - anders als in den Fällen von Peter Magyar und Klara Dobrev. Die zwei ungarischen Oppositionellen sind ebenfalls in ihrer Heimat angeklagt.
Die bekennende Antifaschistin Salis war im Februar 2023 in Ungarn unter dem Vorwurf der lebensgefährlichen Körperverletzung verhaftet worden. In der ungarischen U-Haft kandidierte sie für das italienische Bündnis Allianz der Grünen und Linken (Alleanza Verdi e Sinistra) zur Europawahl 2024 und wurde im Juni desselben Jahres zur Europa-Abgeordneten gewählt. Durch die so erlangte Immunität kam sie kurz nach ihrer Wahl frei.
Schutz vor Repression oder Ausflucht?
Das Votum des Parlaments für ihre Immunität sei rechtlich begründbar, so Rechtsexpertin Pöcze, auch wenn es ein politisches Statement sei: "Ich denke, es ist schon eine politische Botschaft dahingehend, dass man Viktor Orban nicht assistieren will. Die Aufhebung der Immunität wäre kein guter Präzedenzfall gewesen, aber sie ist natürlich fachlich begründet."
Für Salis' Anwalt György Magyar ist die Abstimmung ein "Sieg der Gerechtigkeit", erklärte er im Gespräch mit der DW. "Man hat ihre Immunität nicht aufgehoben, weil man nicht will, dass sie aufgrund ihrer Einstellungen Repressionen ausgesetzt ist." Seiner Mandantin gehe es nicht darum, sich der Verantwortung für ihre Taten zu entziehen: "Sie streitet nicht ab, bei bestimmten Tätlichkeiten dabei gewesen zu sein. Die Immunität ist kein Fluchtweg für sie." Salis selbst möchte, dass ihr Prozess in Italien weitergeführt wird.
Terrorismusvorwürfe aus Budapest
In Budapest reagierte man empört auf die Straßburger Abstimmungen. Auf X schrieb Premierminister Viktor Orban, Salis sei "Mitglied einer Terrorgruppe" und werde "von Brüssel geschützt". "Die Brüsseler Bürokraten belehren gern über Rechtsstaatlichkeit, doch Teile ihres Puzzles wollen einfach nicht zusammenpassen", so Orban weiter. Für ihn und seine Regierung gibt es keine Probleme mit dem ungarischen Rechtsstaat - obwohl die EU unter anderem aus Sorge darum seit Jahren Milliarden an Fördergeldern eingefroren hat.
Brüssel hat außerdem 2018 ein Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Ungarn eingeleitet, an dessen Ende theoretisch die Suspendierung der Stimmrechte stehen könnte. Doch seit Jahren tut sich nichts, und auch die kommende, am 21. Oktober 2025 geplante Anhörung wird voraussichtlich keine Veränderung bringen.
"Wenn es einen Fall gibt, in dem die Anwendung von Sanktionen nach Artikel 7 gerechtfertigt wäre, dann ist es Ungarn. Aber wir sind nicht einmal in die Nähe dessen gekommen," sagt Julia Pöcze von CEPS. "Die Erfahrung zeigt, dass es zu nichts führt, außer zu weiteren Anhörungen."