Red Pill: Vom Internet-Meme zur Verschwörungsideologie
31. August 2025
Im Jahr 1999 steht im Science-Fiction-Film Matrix der Hacker Neo vor einer Entscheidung: Der Widerstandskämpfer Morpheus hält ihm zwei Pillen hin. Schluckt er die blaue, bleibt alles wie gehabt - ein bequemes Leben in einer Scheinwelt. Wählt er die rote, wird er aus der Illusion gerissen und sieht die "wahre Realität": eine dystopische Welt, in der Maschinen die Menschen versklaven. Neo entscheidet sich für die rote Pille, also für Erkenntnis, aber auch für Schmerz, Verlust und Kampf.
Schon in den frühen 2000er-Jahren haben Nutzer in Online-Foren diese Metapher aufgegriffen. Zunächst in der Szene der selbst ernannten "Pick-up-Artists", die mit fragwürdigen Techniken das "Erobern" von Frauen propagierten, später auch bei US-amerikanischen Männerrechtsaktivisten. Daraus entstand die sogenannte Mannosphäre: eine lose Ansammlung von Blogs und Foren, in denen Frauenfeindlichkeit, Verschwörungserzählungen und Selbstoptimierungsideale miteinander verschmelzen.
Bis heute heißt es dort, der Feminismus habe die Gesellschaft übernommen und halte Männer klein. Geschlechterrollen gelten als biologisch festgeschrieben: Frauen seien angeblich "programmiert", sich nach dominanten, physisch überlegenen Männern zu sehnen - selbst wenn diese sie abwerten oder kontrollieren.
USA: ideologisches Zentrum der Incel-Subkultur
Die USA gelten bis heute als ideologisches Zentrum dieser Subkultur. Dort entwickelte sich aus Red-Pill-Foren die sogenannte Incel-Kultur, die spätestens seit dem Amoklauf von Isla Vista 2014 mit sechs Toten ins Blickfeld der Forschung rückte. "Incel" steht für involuntary celibate und bezeichnet digitale Milieus von Männern, die keinen sexuellen Kontakt haben und dies als Benachteiligung deuten. Der Täter von Isla Vista hinterließ ein Manifest und Videos, in denen er seine Frauenfeindlichkeit und den Hass auf sexuell erfolgreiche Männer ausführlich darlegte.
Viele dieser Motive, von der Klage über weibliche Oberflächlichkeit bis hin zur Selbstinszenierung als "unfreiwillig Zölibatärer", werden bis heute mit der Red-Pill- und Incel-Szene in Verbindung gebracht.
Figuren wie Andrew Tate zeigen, wie stark diese Subkulturen mit dem Mainstream verflochten sind. Der britisch-amerikanische Ex-Kickboxer gewann mit Sprüchen über männliche Dominanz Millionen Follower auf TikTok. Zugleich steht er wegen Menschenhandels und Vergewaltigungsvorwürfen vor Gericht.
Dass konservative Kommentatoren beim US-Nachrichtensender Fox News den Begriff "red-pilled" ebenso verwenden wie Prominente à la Elon Musk oder Kanye West, zeigt, wie ein ursprünglich subkultureller Code in den allgemeinen Sprachgebrauch eingesickert ist.
Digitale Verbreitungsmuster der Red-Pill-Influencer
Eine besondere Rolle spielt die Logik der Plattformen selbst. Algorithmen von YouTube oder TikTok belohnen provokante Inhalte, die Emotionen auslösen und damit auch antifeministische Zuspitzungen. Viele Red-Pill-Influencer nutzen diese Mechanik gezielt, indem sie Selbstoptimierungstipps mit frauenfeindlichen Botschaften kombinieren. So erreichen sie ein junges Publikum weit über die eigentliche Szene hinaus.
Deutschland: Nähe zu Extremisten
In Deutschland wurde die Szene ab 2019 über YouTube und Instagram sichtbarer. Fitness- und Business-Influencer wie Karl Ess griffen Begriffe und Narrative der Red-Pill-Szene auf - oft unter dem Deckmantel von Selbstoptimierung und Erfolgstraining.
Parallel dazu weisen Studien wie die Leipziger Autoritarismus-Studie 2024auf eine wachsende Verbreitung antifeministischer Einstellungen hin. Ein Viertel der deutschen Gesellschaft vertritt demnach ein geschlossen antifeministisches Weltbild.
Solche Haltungen bilden häufig eine Brücke in extremistische Milieus, in denen Antifeminismus ein zentrales ideologisches Element ist. Beim Attentat von Halle 2019 hatte ein rechtsextremer Täter zwei Menschen ermordet und zuvor vergeblich versucht, in eine Synagoge einzudringen. Die anschließenden Ermittlungen haben aufgezeigt, wie in einschlägigen Foren Red-Pill- und Incel-Inhalte mit rechtsextremen Verschwörungserzählungen verschmelzen.
Populärer Massenmarkt für die Red-Pill-Bewegung
Die Red-Pill-Ideologie ist zu einem globalen Phänomen geworden. In Brasilien etwa kopierte der Influencer Thiago Schutz ("Coach do Campari") Inhalte von Andrew Tate und erreichte Hunderttausende Follower, bevor er mit Drohungen gegen eine Schauspielerin Schlagzeilen machte.
Forschende sehen strukturelle Ursachen als Gründe für die Verbreitung solcher Theorien. So wurden beispielsweise in Brasilien seit 2010 die Debatten über Geschlechtergerechtigkeit zunehmend politisiert und aus den Schulen verdrängt. An die Stelle institutionalisierter Bildungsangebote traten verstärkt Influencer und konservative Akteure, die Red-Pill-Inhalte mit traditionellen Moralvorstellungen verknüpfen.
Muslimische Online-Communitys: die "Mincels"
Global betrachtet präsentiert sich die Red-Pill-Bewegung sehr heterogen und passt sich dem sozialen Umfeld an. Vildan Aytekin von der Uni Bielefeld forscht zur Strömung der Mincels (muslimische Incels). Anstelle westlich geprägter Attraktivitätshierarchien treten in muslimischen Gesellschaften Konzepte von "Spiritualität und Maskulinität". Weiblichkeit wird idealisiert. Allerdings nicht, um Gleichheit herzustellen, sondern um traditionelle Rollenmuster religiös zu legitimieren.
"Die Ursachen für viele der Frustrationen, die in der Incelsphäre zur Sprache kommen, werden hier auf einen 'falsch ausgerichteten' westlichen Lebensstil zurückgeführt. Dieser sei stark von Hedonismus und Nihilismus geprägt", erklärt Aytekin die Denkmuster.
Eine Studie von Sahar Ghumkhor und Hizer Mir (ReOrient, 2022) beschreibt, wie sich eine muslimische Mannosphäre herausgebildet hat. Beispiele sind Figuren wie der Online-Prediger Daniel Haqiqatjou oder der Autor Nabeel Aziz, die mit Begriffen wie "White Shariah" kokettieren. Sie verbinden antifeministische Narrative mit religiösen Argumenten und schlagen so eine Brücke zwischen westlichen Subkulturen und traditionalistischen Strömungen im Islam.
Ideen mit Sogwirkung
Wie relevant ist die "rote Pille" wirklich? Zahlenmäßig bleibt die Szene eine Minderheit, oft beschränkt auf Online-Foren. Doch ihre Codes und Memes seien längst in den Mainstream eingesickert, sagt Brigitte Temel, die am Wiener Institut für Konfliktforschung zu Incels und der sogenannten Mannosphäre forscht: "Viele junge Leute kennen die Begriffe." Auch österreichische Sektenberatungsstellen melden einen wachsenden Beratungsbedarf. Die Wirkmächtigkeit der Szene qualitativ genau zu messen, sei jedoch schwierig.
Studien deuten darauf hin, dass die Bewegung weniger neue Anhänger gewinnt, sondern vorhandene Ressentiments bündelt und verstärkt. Die Pillen-Metapher liefert dafür eine einfache Erzählung, die persönliche Frustrationen in eine scheinbar größere gesellschaftliche Wahrheit übersetzt. Neben der ideologischen Komponente spielen bei den Influencern und Coaches auch ökonomische Interessen eine Rolle, wie Temel verdeutlicht: "Die ziehen verunsicherten Männern das Geld aus der Tasche."