Die EU braucht Merkel
9. Juli 2012Deutsche Welle: Frau Reding, infolge der Finanzkrise wird vermehrt über eine politische Union diskutiert. Zu Recht, oder ist das mehr oder weniger nur die Flucht nach vorne aus der Krise?
Viviane Reding: Über eine politische Union diskutieren wir ja schon seit Jahrzehnten. Nur ist das in Europa immer dasselbe Spiel: Wenn die Sache gut geht, lehnen wir uns zurück und schauen uns das Ganze von weitem an. Wenn wir aber in Schwierigkeiten geraten, dann muss schnell eine Reform her. Und diesmal geht diese Reform ja sehr viel schneller, als wir das sonst gewohnt sind. Wir müssen Europa zu einer Union festigen, wenn wir überhaupt überleben wollen.
Schauen Sie sich einmal den Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union an. In den Vereinigten Staaten gibt es einen höheren Schuldenberg und ein höheres Defizit als in der Eurozone. Die haben einen Schuldenberg von 101 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, wir in Europa haben 91 Prozent des BIP. Das Defizit in den Vereinigten Staaten: Sieben Prozent des BIP, in der Eurozone drei Prozent des BIP. Also, die liegen sehr viel schlechter als wir. Aber haben Sie schon mal gehört, dass der Dollar in Gefahr ist? Niemals. Weshalb? Ganz einfach, weil die eine Fiskal- und eine politische Union geschaffen haben. Und genau dasselbe müssen wir auch tun, um erstens unsere Wirtschaft abzusichern und zweitens, um auch morgen noch ein Mitspracherecht auf der Weltbühne zu haben.
Es gibt viele Befürworter einer solchen Union. Trotzdem, der Teufel steckt ja im Detail. Die europäischen Politiker verstehen nämlich durchaus Unterschiedliches unter einer politischen Union. Wie ist Ihre Vision? Wie müsste Ihrer Meinung nach die Struktur einer solchen Union aussehen?
Die würde nicht weit weg liegen von dem, was Ihr in Deutschland habt. Ihr habt eine Bundesregierung und Ihr habt die Bundesländer, die ein Mitspracherecht haben. Und so ähnlich sehe ich auch die Europäische Union. Als Europäische Föderation, als Europäischer Bund. Es geht nicht um die Abschaffung des Einzelstaates. Die gewachsene kulturelle Vielfalt und unsere Sprachen wollen wir ja behalten. Aber wir brauchen eine starke Bundesregierung und eine starke europäische Volksvertretung. Zum Beispiel mit zwei Kammern, so wie das in Deutschland auch ist. Heute haben wir ja eine Mischform. Wir brauchen vielleicht ein direkt gewähltes Parlament, wo jeder Bürger eine Stimme hat, und eine Staatenkammer, in der jeder Staat gleichwertig vertreten ist. Und dann müsste der Regierungschef der Europäischen Regierung von dieser europäischen Volksvertretung direkt gewählt werden. Das wäre die parlamentarische Demokratie, die wir in Europa brauchen.
Und wie viel Macht soll dieser Regierungschef bekommen?
Wie ein Regierungschef in Deutschland. Es gibt eine Machtverteilung zwischen dem, was dem Bund und was den Bundesländern zusteht. Bei uns müsste es unbedingt die Außenpolitik sein, die Finanz- und die Budgetpolitik. Und dann müssten wir ein Budget managen, das der europaweiten Wirtschaftspolitik Rechnung trägt. Heute haben wir ein EU-Budget, das einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes aller 27 Mitgliedsstaaten zusammen entspricht. Im Vergleich: die USA haben ein Budget auf Bundesebene, das bei 35 Prozent des BIP liegt. Also, wenn in Washington eine Entscheidung getroffen wird, dann steht auch das entsprechende Geld dahinter. Bei uns in Europa leider noch nicht.
Wenn es denn mit einer politischen Union konkreter wird, könnte es sein, dass sich einige Politiker scheuen, Souveränität an Brüssel abzugeben. Wie würden Sie damit umgehen?
Dann würde ich ganz einfach die Worte von Angela Merkel übernehmen: Es geht ja nicht darum, Souveränität zu verlieren, sondern Souveränität zu teilen. Sie zusammenzulegen mit anderen, damit diese Souveränität stärker wird. Weil wir ja alle, einzeln gesehen, zu klein sind. Damit meine ich nicht nur mein Land Luxemburg. Auch Deutschland ist zu klein, um in der Welt bestehen zu können. Frankreich ist ebenfalls zu klein. Die haben es zwar noch nicht gemerkt, aber das ist so. Nur alle zusammen können wir auf Weltebene eine Stimme bekommen, die gehört wird und nicht verhallt. Das ist das, was Angela Merkel will. Das ist auch das, was ich will. Wir brauchen also mehr Europa, vor allem bei der Kontrolle über die Verwendung von Geldern zum Beispiel.
Frau Reding, lassen Sie uns nach vorne blicken. Wann glauben Sie, könnte eine politische Union konkret werden?
Konkret ist es ja schon geworden in dem Sinne, dass beim jüngsten Gipfel die Staats- und Regierungschefs den 'Vierpräsidentenplan' über die Zukunft einer politischen Union als Arbeitsgrundlage angenommen haben. Im Oktober soll ein Zwischenbericht kommen, damit im Dezember der definitive Fahrplan vorgelegt wird. Ich glaube eigentlich, dass es früher sein wird, weil wir uns schneller bewegen müssen als vorgesehen. So dass wir einen neuen Vertrag ausarbeiten, der all diese Möglichkeiten, die uns auch von den Bürgern angetragen werden, in konkreten Änderungen festhält. Dann haben wir 2014 Europawahlen, bei denen sich die Bürger klar und deutlich zu den Kandidaten bekennen können, die eine politische Union wollen - oder eben nicht. Ich glaube, dass bis 2015 Klarheit besteht, wie das politische Europa gebaut wird.
Und wie sehen Sie in diesem Prozess die Rolle Deutschlands?
Deutschland ist ein großer Staat. Deutschland hat immer sehr verantwortungsbewusst eine Führungsrolle übernommen. Das macht Angela Merkel mit sehr viel Ruhe, mit sehr viel Weitsicht. Wir brauchen die Angela, sage ich ja immer. Die Angela aber nicht allein. Wir sind 27 Länder in der EU und jeder muss ein Stück beitragen, damit dieser Kontinent im Sinne aller vereint wird. Es kann kein deutsches Europa geben, aber Europa ist auch in Deutschland zu Hause.
Viviane Reding (geboren am 27. April 1951 in Esch-sur-Alzette, Luxemburg) ist seit Februar 2010 Vizepräsidentin der Europäischen Kommission. Sie ist zuständig für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft. Von 2004 bis 2010 war sie als EU-Kommissarin für Informationsgesellschaft und Medien zuständig. Frau Reding studierte bis 1978 Anthropologie an der Sorbonne in Paris. Nach ihrem Studium arbeitete sie zeitweise als Journalistin. Im Jahr 1979 ging Reding für die Christlich Soziale Volkspartei Luxemburgs in die Politik.