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Reform einer nationalen Institution

Katharina Wojczenko und Veronika von Zahn24. Juni 2008

Die französische Hochschulreife, das Baccalauréat, wird in diesem Jahr 200 Jahre alt. Doch statt zu feiern, sind Lehrer, Schüler und die Regierung tief zerstritten. Der Grund: Das Baccalauréat soll reformiert werden.

Französische Abiturienten bei der Prüfung
Französische Abiturienten schwitzen bei der PrüfungBild: picture-alliance/maxppp

Die Reform des Abiturs, die sich Präsident Nicolas Sarkozy und sein Bildungsminister Xavier Darcos vorgenommen haben, ist ein Mammutprojekt. Denn in Frankreich führen viele Wege zur Hochschulreife. "Wir haben verschiedene Typen des Baccalauréat", erklärt Joseph Philipps, der Inspektor für das Fach Deutsch im französischen Bildungsministerium. "Wir haben die allgemeine Hochschulreife, das Baccalauréat général, seit 1968 gibt es das Baccalauréat technique, das ist eine Art Fachabitur. Und dann haben wir seit 1985 das Baccalauréat professionel, das berufsbezogene Abitur." Es gebe also drei unterschiedliche Formen, um zum Baccalauréat zu gelangen, mit jedem Typ von Abitur habe man theoretisch die Möglichkeit an die Uni zu gehen.

Will das Baccalauréat reformieren: Minister Xavier DarcosBild: picture-alliance/ dpa

Theoretisch. Doch in der Praxis sieht es anders aus. Manche Abiturformen seien gleicher als die anderen, erklärt Philipps weiter. "Das heißt, wenn Sie zum Beispiel ein berufsbezogenes Abitur gemacht haben, haben sie theoretisch das Recht Jura zu studieren." Aber die Durchfallquote liege bei 99 Prozent, berichtet Philipps: "Insofern ist das theoretisch, aber sehr französisch. In Frankreich hat jeder das unverbriefte Recht, auf die Nase zu fallen." Nur 46% aller Studienanfänger schaffen das erste Jahr an der Uni. Vor allem die Absolventen des berufsvorbereitenden Abiturs, aber auch diejenigen, die ein Fachabitur gemacht haben, müssen häufig wiederholen.

Annäherung an das deutsche Modell?

Doch nicht nur die drei verschiedenen Abschlüsse weisen große Unterschiede auf. Auch innerhalb jedes einzelnen Abiturs gibt es eine Vielzahl von Spezialisierungen, die unterschiedlich prestigeträchtig und anspruchsvoll sind. Besonders deutlich wird dies bei der allgemeinen Hochschulreife. Schüler haben hier die Wahl zwischen dem literarisch- sprachlichen, dem sozial - und wirtschaftswissenschaftlichen und dem naturwissenschaftlichen Zweig. Dabei gilt der naturwissenschaftliche Zweig als der prestigeträchtigste. 80% aller Schüler, die eine allgemeine Hochschulreife vorbereiten, wählen diesen Zweig. Und das, obwohl die meisten gar kein naturwissenschaftliches Studium anstreben.

Französische Lehrer wünschen sich Chancengleichheit für ihre SchülerBild: AP

Mit der neuen Reform soll nun alles anders und besser werden. Für Joseph Philipps ist das Ziel klar: "Wir möchten erreichen, dass in sieben oder acht Jahren 50 % einer Altersklasse einen akademischen Abschluss hat." Die Reform soll vor allem die Qualität aller Abiture verbessern und die Absolventen besser aufs Studium vorbereiten. Dazu sollen die Spezialisierungen innerhalb der Abschlüsse allgemeine Hochschulreife und Fachabitur durchlässiger gemacht werden. Noch hat Bildungsminister Xavier Darcos keinen konkreten Plan vorgelegt. Doch alles deutet auf eine Annäherung an das deutsche Modell hin. Die Spezialisierungen sollen wegfallen. Statt dessen soll es einen Block von Pflichtfächern geben, die jeder Schüler durch Wahlfächer ergänzen kann.

Chancen benachteiligter Schüler sinken

Bei Lehrern und Schülern treffen diese Reformvorhaben jedoch auf Widerstand. Seit Wochen gärt es in den Schulen. Die Lehrer fühlen sich von der Regierung übergangen. Pierre Claustre ist Geschichtslehrer an einem Gymnasium in einem der sozialen Brennpunkte in der Pariser Banlieue. "Wir haben einen Minister und einen Präsidenten, die immer wieder hier und da etwas sagen", beklagt er sich. "Die Abiprüfungen sind zu teuer; es gibt zu viele Arbeiten zu korrigieren; Die Schüler haben zu viele Unterrichtsstunden." Rechne man das alles zusammen, sehe man, was die Politiker vorhätten, so Claustre: "Aber ihren Reformplan haben wir noch nicht gesehen."

Für Pierre Claustre gefährden die Reformvorhaben der Regierung auch die Chancen benachteiligter Schüler auf ein Abitur: "Wir befürchten, dass manche Abschlüsse wegfallen. Aber gerade diese Vielfalt hat es Generationen junger Franzosen ermöglicht; das Abitur zu machen." Noch wissen die Lehrer nicht genau, was mit der Reform auf sie zukommt. Die ersten konkreten Vorschläge werden voraussichtlich erst im Juli vorliegen. Dann haben die meisten der über 600.000 Prüflinge des 200. Abiturjahrganges ihr Zeugnis hoffentlich bereits in der Tasche.

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