"Ein Fest der Freiheit"
31. Oktober 2017Kalt weht es vor der Schlosskirche in Wittenberg. Angela Merkel im pinken Blazer sucht nach einigen Momenten Blickkontakt mit ihrem Sprecher Steffen Seibert: der Mantel...? Ihr wird geholfen - doch es bleibt kalt für die Bundeskanzlerin. Jenseits der Absperrungen stehen in der dichtgedrängten Menge einige Dutzend und brüllen "Haut ab", und auch mal "Merkel muss weg". Üble Erinnerung an Wahlkampfauftritte. Lauter als bei ihr brüllen sie nur bei Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth von den Grünen.
Doch die Störer prägen den Tag nicht. Mit Zehntausenden Besuchern und viel politischer Prominenz feiert die Stadt an der Elbe, ja feiert Deutschland an einem in 2017 einmaligen bundesweiten Feiertag den 500. Jahrestag des Thesenanschlags durch den Mönch Martin Luther am 31. Oktober 1517. Es war sein Aufstand gegen die Papst-Kirche und ihr Religionsdiktat - der Tag wurde zum Beginn der Reformation.
"Ein Land, das mit sich ringt"
Als "Akt der Befreiung" bezeichnet der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, diesen Beginn der Reformation. "Und nun sitzen wir hier 500 Jahre später als Menschen in einem Land, das ebenfalls mit sich ringt. Als ein Land, das so gesegnet ist wie nie zuvor. ... Als ein Land, in dem Menschen Angst haben, ihre gewohnte Welt zu verlieren, ihre Sicherheit zu verlieren. Als ein Land, das sich nach Heimat sehnt. Als ein Land, das deswegen die reformatorische Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade so dringend braucht."
Da sitzt als Festgemeinde eine geschlossene Gesellschaft. Überwiegend männlich - während im Alltag Kirchenbesuch in Deutschland eher Frauensache ist. Bundespräsident Steinmeier ist da, mit Joachim Gauck und Christian Wulff auch zwei seiner Vorgänger, Bundestagspräsident Schäuble mit mehreren Stellvertretern, fünf Ministerpräsidenten. Tausend Polizisten, so die offizielle Zahl, sind im Einsatz und prägen jede offizielle Szene. Und, ach ja, auch Kardinal Marx als oberster deutscher Katholik und der Botschafter des Vatikan, Erzbischof Eterovic, feiern selbstverständlich mit - und verharren vor der Feier gemeinsam am Grabe Luthers.
Einladung an Papst Franziskus
Sie hören Worte, die bei jedem früheren Reformationsjubiläum undenkbar gewesen wären. Er rufe, sagt Bedford-Strohm, "am 500. Jahrestag der Reformation von Wittenberg aus dem Papst in Rom zu: Lieber Papst Franziskus, Bruder in Christus, wir danken Gott von Herzen für dein Zeugnis der Liebe und Barmherzigkeit, das auch für uns Protestanten ein Zeugnis für Christus ist."
Dann das, was deutlich nach Einladung klingt: "Wann immer du einmal hierher nach Wittenberg kommst, dann werden wir dich ein halbes Jahrtausend nach der Verbrennung der Bannbulle von ganzem Herzen willkommen heißen!" Martin Luther verbrannte den päpstlichen Bann 1520 - da wäre der 500. Jahrestag das naheliegende Datum...
Nach dem Gottesdienst wagen sich Merkel und Steinmeier doch an die Absperrungen und sprechen kurz mit Zuschauern. Dann geht es zum offiziellen Festakt in die Stadthalle. Ungarns Präsident János Àder erinnert an die enge Beziehung Wittenbergs zu seinem Land zu Zeiten der Reformation. Aber vor allem prägt Kanzlerin Merkel die Feier. Die Pastorentochter aus Ostdeutschland äußert sich ausgesprochen offen zur Bedeutung der Reformation für sie selbst und schlägt in 19 starken Minuten zugleich den Bogen in die Gegenwart.
Merkels Mahnung zur Toleranz
Von der "befreienden Botschaft" spricht sie, der "religiösen Erneuerungsbewegung". Luther habe einen Stein ins Rollen gebracht, "der die Welt für immer verändern sollte". Und dann wird die Protestantin Merkel ungewohnt persönlich. "Wir machen Fehler. Aber ich finde es sehr befreiend zu wissen, dass wir an unserer Unvollkommenheit nicht zerbrechen müssen."
Merkel, die auch die dunklen Seiten des Reformators wie seine Haltung zu den Juden nicht ausspart, kommt auf Toleranz als "die Seele Europas" und "Grundprinzip jeder offenen Gesellschaft", ruft zum Schutz der Religion vor Geringschätzung auf und mahnt dann Kirchen und Politik zum Einsatz für Religionsfreiheit und auch zum interreligiösen Dialog. Es gehe um das Wertefundament des Landes und Europas. Überall dort, wo es um die Religionsfreiheit schlecht bestellt sei, nehme auch gesellschaftliche Entwicklung Schaden.
In der zentralen Schlossstraße flanieren derweil viele Tausend Besucher durch einen Mittelalter-Markt. Was sie zum offiziellen Programm sagen? "Es ist ja alles abgesperrt", sagt eine Frau. "Das macht ja schon fast aggressiv." Ein älterer Mann meint: "Die Menschen hier wissen doch kaum, welche Bedeutung Merkel weltweit hat. Sie ist ja als Kanzlerin nicht nur eine Person." Er wohne in der Region - es klingt fast wie eine Entschuldigung.
Zwischen kleinen Karussells, traditionellem Kunsthandwerk, einem "Hau den Lukas" und Verpflegungsständen sitzt Skyla aus Hawaii. Und liest laut auf englisch aus der Bibel. Demnächst geht sie mit zwei Freundinnen aus dem Mittleren Westen der USA für die Missionsgesellschaft YWAM nach Georgien, Kasachstan und in die Ukraine. Der Tag in der Lutherstadt war für sie da ein gutes Training.
Blaulicht in der blauen Stadt
Der Festakt endet, die politische Prominenz rauscht davon. Bis zur Hauptstraße hinaus aus der Lutherstadt Wittenberg stehen alle sechs, acht Meter Polizisten auf beiden Seiten der gesperrten Straße. Das viele Blaulicht der Polizeifahrzeuge geht über in das bläuliche Farbenspiel, das Lichtkünstler auf die ehrwürdigen Gebäude der abendlichen Stadt legen. Wittenberg feiert sich und seinen berühmtesten Bürger, den Weltbürger Martin Luther.