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Deutschland braucht Reformen

Jennifer Blanke
9. September 2015

Während andere Länder sich mit der Massen-Einwanderung noch schwer tun, akzeptiert Deutschland eine große Zahl von Flüchtlingen. WEF-Chefökonomin Jennifer Blanke mahnt dennoch dringende Reformen an.

München Deutschland Flüchtlinge sagen Danke Bayern
Bild: Ben Knight

Nach fast einem Jahrzehnt mageren Wachstums in Europa braucht es hier in der Tat große Anstrengungen, um die gesamte Region wieder auf stabiles und nachhaltigeres Wachstum auszurichten. Das wird aber entscheidend sein, um das europäische Gefüge als Ganzes zusammen zu halten - in einer Zeit, in der nicht nur die Eurozone in Gefahr ist, sondern auch noch Großbritannien sich fragt, ob es in Sachen EU ganz das Handtuch werfen soll.

Allerdings wird die Zukunft Deutschlands und Europas nicht nur davon abhängen, was mit Griechenland und anderen Krisenländern geschieht: Deutschland muss sich auch sehr genau ansehen, welche Veränderungen in der eigenen Wirtschaft nötig sind, um für nachhaltigen und breit abgesicherten Wohlstand seiner jetzigen und seiner künftigen Bürger zu sorgen. Denn in der Tat: Während deutsche Unternehmen anfangen, Flüchtlingen Jobs anzubieten, zeigt die Herausforderung, möglicherweise 800.000 neue Bürger zu integrieren, wie wichtig es ist, strukturelle Probleme zu meistern, vor denen Deutschland und seine Wirtschaft stehen.

Zufriedenes Deutschland

In dem unlängst veröffentlichten Inclusive Growth and Development Report präsentiert das World Economic Forum eine Reihe von Denkanstößen für breit angelegte Verbesserungen des Lebensstandards in 30 entwickelten Volkswirtschaften und mehreren Schwellenländern. Die Analyse beschäftigt sich mit oft diskutierten Instrumenten wie Bildung und Verteilungsgerechtigkeit, aber auch mit weniger häufig beachteten Mechanismen wie etwa Unternehmertum und Vermögensbildung, Zugang zum Finanzmarkt, Gesundheit und Infrastrukturen oder das Fehlen von Korruption.

Jennifer Blanke, Chefökonomin des Weltwirtschaftsforums (WEF)Bild: picture-alliance/dpa/N. Bothma

Die ökonomische Debatte in Deutschland zeigt ein Land, das mit dem Zustand seiner Wirtschaft in hohem Maße zufrieden ist, und in vielerlei Hinsicht ist das gerechtfertigt: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist relativ niedrig, das System von Ausbildung und Lehre hilft, den Beschäftigten nötige Fähigkeiten zu vermitteln, was dazu führt, dass die Jugendarbeitslosigkeit im Land bei acht Prozent liegt - im Vergleich zu mehr als 50 Prozent in Griechenland und Spanien. Geht es um Verteilungsgerechtigkeit, so verfügen die Beschäftigten verglichen mit vielen anderen entwickelten Volkswirtschaften über einen hohen Einkommensanteil. Deutschlands umtriebige mittelständische Unternehmen verkaufen ihre Nischen-Qualitätsprodukte weiterhin weltweit. Im Ergebnis sitzt Deutschland dank des erheblichen Erfolgs seiner Volkswirtschaft fest am Steuerrad, wenn es um wirtschaftliche Entscheidungen in Europa geht.

Allerdings würde Deutschland nicht sehr weitsichtig vorgehen, wenn es nur darauf blicken würde, was andere Ländern tun sollten. Seine Stärke kann nicht auf Dauer Schwächen ausgleichen, die - sollten sie nicht angegangen werden - letztlich die Möglichkeiten des Landes einschränken werden, eine breit angelegte Steigerung des Lebensstandards zu sichern. Die Welt hat in den letzten Jahren wachsende Ungleichheiten erlebt, und Deutschland ist gegenüber diesem Trend nicht immun. Trotz eines Wachstums, das weite Teile Europas hinter sich lässt, haben die Arbeiter immer weniger von den Wachstumsergebnissen: Obwohl die Durchschnittslöhne relativ hoch bleiben, steigen die Ungleichgewichte. Noch beunruhigender ist vielleicht der Umstand, dass viele der derzeitigen Stärken Deutschlands nicht ausreichen dürften, auch in Zukunft den Lebensstandard auf breiter Basis zu sichern. Was wäre nötig für ein Wachstum, das mehr einschließt?

Zu wenig Gründung, zu wenig Frauen

Zwei sich gegenseitig verstärkende Momente, die mit einem Mangel an Dynamik einhergehen, bremsen Deutschlands Wirtschaft in gewisser Weise: verhältnismäßig wenig neue Unternehmensideen und ein geringer Anteil von Frauen an den Beschäftigten. Das sind Symptome für einen Mangel an Innovation und Dynamik, die Deutschland aber braucht, um seinen hohen Lebensstandard zu sichern.

Der Zeitaufwand und die Kosten, um ein Unternehmen zu gründen, sind in Deutschland im Vergleich zu anderen entwickelten Volkswirtschaften recht hoch. Deshalb ist es vielleicht nicht überraschend, dass Deutschland in Sachen Firmengründung unter 29 entwickelten Volkswirtschaften auf Platz 25 steht. Alles in allem steht Deutschland bei der Zahl kleiner Unternehmen auf Platz 14 - deutlich hinter den USA, die hier führend sind.

Richtig ist, dass Deutschland sich einer relativ niedrigen Arbeitslosigkeit erfreut. Sie entspricht allerdings einer niedrigen Beschäftigungsrate (Platz 20 von 30), was zunächst bedeutet, dass weniger Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Das ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen, nicht zuletzt aber die geringe Zahl von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Aus politischer Sicht werden Frauen behindert durch einen Mangel an bezahlbarer Kinderbetreuung, was es für viele Frauen schwer macht, Job und Mutterschaft unter einen Hut zu bringen. Hinzu kommt, dass das Ausbildungssystem zwar bei der Berufsausbildung gute Ergebnisse zeitigt, die aber verbunden sind mit ungleichen Chancen im eigentlichen Bildungssystem, wo Schüler aus niedrigen Einkommensschichten bei Lesen und Mathematik markant schlechter abschneiden, und das schränkt ihre sozialen Aufstiegsmöglichkeiten ein. Das beraubt Deutschland vieler Talente, die es dynamischer machen könnten.

Blickt man auf die viel diskutierte Flaute der Wirtschaft in China und in anderen Schwellenländern, die in den vergangenen Jahren große Abnehmer deutscher Exporte waren, dann muss Deutschland Innovationen durchsetzen und neue Produkte und Dienstleistungen für neue Märkte entwickeln. Das Land muss wirtschaftlich außerdem auf ein größeres Gewicht des internen Konsums und auf mehr Dynamik achten. Mit anderen Worten scheint die Lage gegenwärtig zwar sehr gut zu sein, vor allem im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, die sich sichtlich schwer tun. Aber wenn auch vieles gut läuft, braucht Deutschland doch auch Reformen, um sich und - angesichts seines großen wirtschaftlichen Gewichts - auch Europa auf einen Wachstumspfad zu bringen, der mehr mitnimmt. Nur wenn Deutschland die Risse im Gebäude seines Wirtschaftsmodells angeht, kann es sicherstellen, dass es auch für kommende Generationen auf einem nachhaltigen, starken Fundament steht.

Jennifer Blanke ist Chefvolkswirtin des World Economic Forum (WEF) und Mitglied im WEF-Executive Committee.

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