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Reformen? Ja, bitte!

24. April 2003

Das Vertrauen der Deutschen in politische und gesellschaftliche Institutionen ist sehr gering. Dies ergab die Online-Umfrage "Perspektive Deutschland 2002", die am 23.4. vorgestellt wurde. Jens Thurau kommentiert.

Wie geht es den Deutschen denn nun wirklich momentan? Sind sie so unflexibel, erstarrt in den Strukturen, unfähig zu Reformen, wie viele Kritiker es ihnen nachsagen? Haben sie lange über ihre Verhältnisse gelebt und müssen sie bald einen hohen Preis dafür zahlen, wie viele Kommentatoren behaupten? Ist die Politik deshalb so wankelmütig und zögerlich, weil das Volk es eben auch ist, weil es den einen Konsens gibt in der deutschen Gesellschaft, dass niemand wehgetan werden darf und jede Veränderung eine Bedrohung ist?

Rund 370.000 Deutsche hat die Initiative "Perspektive Deutschland" im vergangene Herbst per Internet befragt. Was sie von den Parteien und Verbänden halten, welche Reformen sie für richtig halten und zu welchen Opfern sie bereit sind. Und das Ergebnis ist: Eigentlich geht es den Deutschen ganz gut, ja sie sind sogar einigermaßen zufrieden mit dem Leben im Krisenstaat Deutschland. Aber sie dringen auf Veränderungen, und zwar in einem stärkeren Maße, als die Politik es einfordert.

Die kommt schlecht weg: Ganze drei Prozent der Befragten vertrauen den politischen Parteien. Politikmüde sind die Deutschen deswegen nicht. Sie wünschen sich mehr Kompetenzen für die Kommunen und mehr Volksentscheide. Von wegen Politikverdrossenheit.

Schlechte Noten auch für die Kirchen: Ganze elf Prozent der Deutschen stehen der Umfrage zufolge hinter der katholischen Kirche. Eine bittere Quittung für die Realitätsverweigerung der Bischöfe, die etwa mit dem Stichwort Schwangerenberatung verbunden ist. Gute Noten bekommen Interessen- und Kampagnengruppen wie der ADAC oder Greenpeace.

Die erstaunlichsten Ergebnisse liefert die Umfrage aber beim Thema Reformen. Nur nicht so zaghaft, lautet die Botschaft an die Politik. Die Menschen wollen grundlegende Änderungen, sie wollen private Zusatzversorgungen bei der Rente und weniger Leistungen in der gesetzlichen Krankenkasse, wenn dafür nur die Beiträge niedrig bleiben. Und gerade um diese Punkte feilscht die hohe Politik derzeit - und sie hat dabei den Wähler im Auge, dem man angeblich zu viele Härten nicht zumuten darf.

Verdient das Volk also mutigere Staatenlenker? Solch einfache Rückschlüsse sind gefährlich. Zum einen scheitert die Politik mit ihren Reformplänen ja nicht an der Gesellschaft als ganzer, sondern an Interessen-Gruppen und Lobbyisten. Die Konsensgesellschaft hat lange nach diesem Muster funktioniert, hat Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände eingebunden - und hatte Erfolg damit. Jetzt erweist sich dieses Vorgehen als Bremse für Reformen.

Und zum anderen ist es leicht, sich per Mausklick für Reformen auszusprechen, deren wahrer Preis noch nicht feststeht. Wie aufgebläht das Leistungsangebot der Krankenassen ist, dafür kann jeder Bürger plastische Beispiele liefen. Die Nachbarin, die bereits zum achten Mal zur Kur gefahren ist etwa. Aber was passiert, wenn die Leistungen wirklich beschnitten werden, wenn den Bürgern klar wird, dass die Reform für jeden Deutschen mehr persönliches Engagement erfordert, auch finanziell? Diese Fragen beantwortet die Umfrage der "Perspektive Deutschland" nicht. Muss sie auch nicht. Es ist schon verdienstvoll genug, den Politikern zu signalisieren, dass sie ruhig etwas beherzter reformieren dürfen. Aber die ganz große Reformeuphorie, die die Zahlen suggerieren, sollte man nüchtern einschätzen.

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