"Eine Kosten-Nutzen-Rechnung ist nicht einfach"
5. Oktober 2016DW: Wie wichtig ist die Brüsseler Geberkonferenz für die Regierung von Präsident Ghani?
Nicole Birtsch: Sie ist entscheidend wichtig, denn es geht darum, die internationale Unterstützung für die nächsten vier Jahre festzulegen. Die Regierung Ghani hat gleichzeitig die Möglichkeit, zu zeigen, was sie erreicht hat und ihre Reformpläne vorzustellen. Schwerpunkt für die Regierung ist die Reform der öffentlichen Finanzen. Dazu gehören neben der Erhöhung der öffentlichen Einnahmen die Reform der Finanzverwaltung, mit den Stichworten Transparenz und Verantwortlichkeit. Weitere Themen auf der Prioritätenliste der Regierung sind Urban Development, Landwirtschaft, Wirtschaftsförderung für Frauen.
Es ist sicher auch kein Zufall, dass sich die Regierungskrise zwischen Präsident Ghani und seinem "Regierungsbevollmächtigten" Abdullah Abdullah vor der Konferenz etwas beruhigt hat. Jetzt muss man abwarten, ob das in einer tragfähigen Lösung der Probleme an der Spitze Afghanistans resultiert. Auch die internationale Gemeinschaft ist am Fortbestand der Regierung interessiert.
Wie stark ist der Glaube der Geberländer an Verwirklichung solcher Reformzusagen?
Ich würde sagen es ist eine Mischung aus realistischer Einschätzung dessen, was innerhalb des Zeitrahmens von vier Jahren und unter den herrschenden Bedingungen umgesetzt werden kann, und dem, was man sich wünscht und was man schön aufs Paper schreiben kann. Irgendwo in der Mitte trifft sich das dann. Aber auch, wenn diese Reformpapiere tatsächlich erst mal nur Papier sind, so sind doch viele Gedanken darin eingeflossen, auf die man sich beziehen kann. Die afghanische Regierung steht schon unter Druck, zu "liefern" und sich zu rechtfertigen, wie weit sie gekommen ist. Das ist auch ein Ergebnis der Tokioter Geberkonferenz von 2012, die sehr stark die Idee der Gegenseitigkeit, des "mutual agreement" betonte. Hier wurden gegenseitige Rechenschaftspflicht und Indikatoren, für die Kabul rechenschaftspflichtig ist, festgelegt.
Das Nachverfolgen, wieweit die mit den Zahlungen verbundenen Auflagen erfüllt wurden, ist allerdings nur begrenzt möglich. Es ist letztendlich eine politische Entscheidung. Man muss immer sehen, wie weit man mit den Konsequenzen des Zurückhaltens von Geldern gehen kann.
Wie würden Sie die Kosten-Nutzen-Bilanz solcher Geberkonferenzen bewerten?
Es hat sich seit 2002 zweifellos viel getan im Gesundheits- und Bildungswesen, bei Frauenrechten, in der Telekommunikation, allgemein in der Verbindung Afghanistans mit der Außenwelt. Gleichzeitig ist sicherlich auch vieles in Kanälen der Korruption versickert, es wurde auch Geld für Projekte mit fragwürdigem Nutzen ausgegeben. Trotzdem ist eine Kosten-Nutzen-Rechnung nicht so einfach. Geht es um Nutzen für die afghanische Gesellschaft oder um Nutzen für uns und unsere Ziele?
Sicherlich ist das, was konkret der afghanischen Gesellschaft zugute kommt, nicht der einzige Posten in der Kalkulation der Gebergemeinschaft. Sondern da geht es beispielsweise auch darum, wie wir als EU insgesamt dastehen, was sind unsere politischen Gewinne, welches politische Kapital ziehen wir daraus, dass wir uns in Afghanistan einsetzen?
Wie wird der erneute Angriff und vorübergehende Einmarsch der Taliban nach Kundus am Rande der Brüssel Konferenz bewertet?
Aus internationaler Sicht ist die Reaktion: Jetzt wird Kundus wieder überrannt, wie vor einem Jahr. Man stellt sich die bange Frage: Wie stark sind die Taliban, wie kann Afghanistan sich angesichts dieser Ereignisse weiterentwickeln? Afghanische Konferenzteilnehmer hier sagen aber: Ja, es stimmt, die Taliban haben wieder angegriffen, aber unsere Sicherheitskräfte waren in der Lage, die Taliban zu bekämpfen und zurückzudrängen. Es ist also wichtig zu sehen, dass solch ein Ereignis in Afghanistan auch aus einer anderen Perspektive als der unsrigen gesehen wird.
Nicole Birtsch ist Afghanistan-Expertin bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
Das Interview führte Hans Spross.