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Theater

Kirill Serebrennikov: "Resignieren nützt nichts"

21. Januar 2022

Der bekannteste Theatermacher Russlands feiert am Thalia-Theater in Hamburg Premiere. Der DW hat er verraten, warum er sich nicht in der Opferrolle sehen will.

Deutschland Kirill Serebrennikov, Ankunft in Hamburg
Kirill Serebrennikov bei seiner Ankunft in HamburgBild: Fabian Hammerl

Serebrennikow inszeniert Tschechow

02:15

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Jahrelang stand der russische Starregisseur Kirill Serebrennikov in Moskau unter Hausarrest, danach hatte er Reiseverbot. Keiner hatte damit gerechnet, dass der Theatermacher, der wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Gelder verurteilt wurde, Russland je wird verlassen können. Am Samstag (22.01.2022) nun feiert Serebrennikovs Inszenierung von Anton Tschechows "Der Schwarze Mönch" Premiere am Thalia-Theater in Hamburg – und der Regisseur ist dabei.

DW: Kirill, alle wollen wissen, wie Sie nach Deutschland kommen konnten. Was ist geschehen? Einer meiner Kollegen fragte: "Was ist denn da los bei euch in der 'neuen Sowjetunion', dass man die Leute rauslässt?"

Kirill Serebrennikov: Diese Frage wird so oft gestellt, dabei habe ich keine klare Antwort darauf. Nach dem Antrag des Anwalts wurde eine Reiseerlaubnis für die Arbeit in Hamburg erteilt. Danach muss ich zurück und mich erneut anmelden. Ich bin glücklich über diese Möglichkeit.

Serebrennikov und sein Ensemble bei der Arbeit am "Schwarzen Mönch"Bild: Ira Polyarnaya/Thalia Theater

Zum ersten Mal seit vier Jahren sind Sie wieder im westlichen Teil Europas. Wie fühlt sich das an nach einer so langen Pause? Wie ist die Atmosphäre am Thalia-Theater?

Ich habe all die Jahre gearbeitet in Russland, und zwar recht intensiv – manchmal virtuell, manchmal "in Person". Bei diesem Projekt in Hamburg arbeiten Künstler aus verschiedenen Ländern zusammen: ein Russe, ein Amerikaner, Deutsche, ein Lette, ein Litauer, es gibt einen wunderbaren Tänzer aus Südostasien. Es ist ein bisschen wie die Arche Noah. Das scheint mir sehr wichtig - gerade in einer Zeit, in der alles zur Hölle geht, in der die COVID-Mauern immer höher wachsen.

"Mit Groll kann man nicht leben"

Ihnen wurde Veruntreuung staatlicher Gelder vorgeworfen. Zahlreiche Beobachter und Sie selbst nannten die Vorwürfe "lächerlich", der Ihnen gemachte Prozess war streckenweise an Absurdität nicht zu übertreffen. Sie verbrachten anderthalb Jahre unter Hausarrest und kamen mit einer üppigen Geldstrafe und einer dreijährigen Bewährungsstrafe davon. Dennoch sehen Sie sich nicht in der Opferrolle.

Ich halte es generell für kontraproduktiv, das Opfer zu spielen - von wegen "Ich bin der Leidtragende und war Repressalien ausgesetzt". Wir sind alle erwachsen. Jeder weiß, was geschehen ist. Jeder weiß, wieso, aus welchem ​​Grund. Ich habe meine Antworten auf diese Fragen, will aber aus verständlichen Gründen hier und jetzt nicht darüber sprechen. Das Leben geht weiter. Mit Groll, mit einem Gefühl der Ungerechtigkeit, kann man nicht leben. Dieser Lebensabschnitt ist vorbei, wir gehen weiter. Dasselbe gilt im Übrigen auch für COVID: Resignieren nützt einfach nichts.

Rätselhaft: Im "Schwarzen Mönch" geht es um um die Suche nach sich selbst, um Befreiung, aber auch um die Abgründe der menschlichen Seele Bild: Ira Polyarnaya/Thalia Theater

"Der schwarze Mönch" ist eines von Tschechows rätselhaftesten und umstrittensten Werken. Und es ist bei uns wenig bekannt. Warum diese Wahl?

Genau deshalb. Damit die Leute nicht das zu sehen bekommen, was sie schon kennen. Immerhin scheint mir das Theater ein Ort zu sein, wo man etwas über den Menschen, über Wissenschaft, über Literatur erfahren sollte. "Der schwarze Mönch" ist ein polemisches Werk. Auch Tschechows Erzählung ist polemisch und rief gemischte Reaktionen hervor. Unser Stück wird Fragen aufwerfen, da bin ich sicher.

"Die Live-Kommunikation zwischen Bühne und Publikum ist wie eine Droge"

Ich habe viele Ihrer Inszenierungen gesehen, die in Deutschland in den letzten vier Jahren gezeigt wurden. Es ist beeindruckend, wie sehr Sie die Arbeit des Regisseurs aus der Entfernung modellhaft zur Vollendung gebracht haben. Ist das die Regieform der Zukunft, die Sie in dieser Zwangslage entdeckt haben?

Als Perfektionist habe ich ständig Panikattacken, weil ich aus der Distanz nicht alles bis ins letzte Detail kontrollieren kann. Gleichzeitig wäre es dumm, das ungenutzt zu lassen, was uns das 21. Jahrhundert gegeben hat: die digitale Technologie. Natürlich kann die Live-Performance und die Live-Kommunikation zwischen Bühne und Publikum durch nichts ersetzt werden, das ist wie eine Droge, richtig cool. Aber auf jeden Fall bin ich dem 21. Jahrhundert dankbar, dass es uns die Möglichkeit gegeben hat, aus der Ferne und mit Hilfe digitaler Technologien zu arbeiten.

Ein europäischer Kulturtempel: Das Thalia-Theater in HamburgBild: Thomas Robbin/imageBroker/picture alliance

In einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit", Ihrem ersten Interview mit der deutschen Presse in den vergangenen zwei Wochen, sagten Sie: "Die Kunst markiert den schwarzen Wald, in den wir besser nicht gehen sollten." Das klingt ein wenig fatalistisch. Ist das ein Hinweis auf die Existenz eines bestimmten Raums ohne Regeln und ohne Kultur?

Im Gegenteil: Ich wollte den Interviewer unbedingt davon abhalten, der Melancholie zu verfallen! Eine riesige Anzahl von Menschen in Deutschland, die sich mit mir für ein Interview getroffen haben, befinden sich gerade in einem halbdepressiven Zustand. Sie sagen: Alles ist schlimm, COVID hat uns alle so getroffen. Ja, das ist alles verständlich, aber es ist eine Prüfung. Prüfungen werden uns genau deswegen auferlegt, damit wir stärker werden.

Europa bedeutet Kultur. Es sind die Werte, die uns verbinden und anhand derer wir uns als Europäer erkennen. Gleich am ersten Tag in Hamburg bin ich in die Kunsthalle gegangen und hatte das Gefühl, ich sei zu Hause. Denn ich kenne diese Bilder: Sie wurden in Moskau gezeigt, die Werke dieser Künstler hängen in Moskauer Museen oder in russischen Museen, das ist etwas sehr Verbindendes, Vertrautes. Und das ist so schön und toll!

"Die Funktion der Kultur: nicht lügen, nichts fürchten"

Sie sagen, ihr Motto wäre, "nichts zu fürchten und nicht zu lügen". Das sind großartige Lebensprinzipien. Aber sind sie im heutigen Russland denkbar - in einem Land, das die nächsten und entfernte Nachbarn mit Waffen bedroht?

Selbstverständlich. Wie zuvor werde ich nur eines sagen: Es wird Kriege geben, Erdbeben, Tsunamis und andere Katastrophen - aber die Kultur und die Kulturmenschen werden die letzten sein, die das sinkende Schiff verlassen. Das ist die Funktion der Kultur: nicht zu lügen, nichts zu fürchten und ein menschliches Antlitz zu bewahren.

Welche Pläne haben Sie in Deutschland und in Russland?

Viele. Vor allem will ich mit den Menschen zusammen sein, die ich sehr liebe. In Russland genauso wie anderswo.

Das Gespräch führte Anastassia Boutsko.

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