"Reißen Sie die Mauer nieder, Herr Scholz!"
17. März 2022Es ist kurz nach 9 Uhr morgens und das was gleich geschieht im Deutschen Bundestag, kann man durchaus historisch nennen: Gerade hat noch das Gerücht die Runde gemacht, die Videoschalte mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj werde sich doch noch verzögern, weil es Angriffe in der Nähe des Präsidenten-Palastes in Kiew gegeben habe.
Absolute Stille im Bundestag
Aber dann ist er doch da, erscheint auf den Videoschirmen hinter dem Rednerpult, und während er zu den Abgeordneten spricht, ist es still im Plenum. Absolut still. Eine Stille der tiefen Betroffenheit ist das, manche Politiker schlagen die Hände vors Gesicht, als sie den Worten Selenskyjs über das Leid in der Ukraine zuhören.
"Russland zerstört alles!"
Eindringlich schildert der ukrainische Präsident das blanke Entsetzen des Krieges: "Russland zerstört unsere Städte und bombardiert alles, was da ist. Wohnviertel, Krankenhäuser, Schulen und Kirchen. Alles. 108 Kinder sind getötet worden, mitten in Europa." Aber Selenskyj belässt es nicht bei der Schilderung des Leids. Weite Teile seiner gut zehn Minuten langen Rede sind eine verzweifelte Anklage an den Westen, auch und speziell an Deutschland.
"Nord Stream 1 ist Zement für eine neue Mauer"
Die Sanktionen, die Europa und die internationale Staatengemeinschaft gegen Russland ergriffen hätten, seien zu schwach, um den russischen Machthaber Wladimir Putin zu stoppen. Die Waffenlieferungen reichten nicht aus. Und immer noch seien viele deutsche Unternehmen in Russland aktiv, "in dem Land, dass euch einfach ausnutzt", so Selenskyj. Konkret nennt er die noch laufende Gas-Pipeline Nord Stream 1 von Russland direkt nach Deutschland "den Zement für die neue Mauer in Europa."
"Herr Scholz, zerstören Sie diese Mauer!"
Dieses Wort kommt immer wieder vor in seiner Rede: Das Wort der Mauer. "In Europa gibt es wieder eine Mauer", erinnert er an die dunklen Zeiten des kalten Krieges bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Er erwähnt den früheren US-Präsidenten Ronald Reagan, der im Juni 1987 in Berlin gefordert hatte, die Mauer einzureißen. Jetzt wendet sich Selenskyj direkt an den Bundeskanzler, der sich auf der Regierungsbank umgedreht hat, um dem ukrainischen Präsidenten zuzuhören. "Lieber Herr Bundeskanzler Scholz: Zerstören Sie diese neue Mauer! Helfen Sie, diesen Krieg zu stoppen!"
"Westliches Zögern hat den Krieg ermöglicht"
Noch einmal beklagt der ukrainische Präsident, dass der Westen und die NATO keine Flugverbotszone über der Ukraine einrichten wollen, um nicht in den Krieg hineingezogen zu werden. Er beklagt die Zögerlichkeit, mit der Ukraine über einen möglichen Beitritt zur EU und zur NATO zu sprechen, in der Vergangenheit, auch jetzt noch nach dem Angriff. Diese Zögerlichkeit habe den russischen Krieg erst ermöglicht. Und eindringlich erinnert Selenskyj die Deutschen auch an ihre historische Verantwortung, 80 Jahre nach den Verbrechen, die den Ukrainern damals von den Deutschen angetan wurden.
Streit um eine mögliche Debatte im Bundestag
Am Ende mutet es dann schon seltsam an, dass der Bundestag nach der Rede zur Tagesordnung übergeht und über andere Themen debattiert. Vehement hatte etwa die CDU-Opposition von der Regierung eine Aussprache gefordert, Kanzler Scholz müsse eine Regierungserklärung abgeben, so CDU-Chef Friedrich Merz: "Wo stehen wir, haben wir das richtig gemacht, gibt es möglicherweise Entscheidungen, die nachkorrigiert werden müssten?" Aber die Regierung verwies im Vorfeld auf eine aktuelle Stunde zur Ukraine am Mittwoch im Bundestag und auf eine weitere Debatte noch am selben Tag über die Aufnahme von Flüchtlingen. Einen Antrag der Opposition, über Selenskyjs Rede zu sprechen, lehnt die Koalitionsmehrheit von SPD, Grünen und FDP dann ab. Begleitet von wütenden Zwischenrufen, die das unwürdig nennen.
Göring-Eckardt erinnert an die Maidan-Proteste
Sichtlich erschüttert hatte Parlaments-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt von den Grünen die Sitzung vor Selenskyjs Rede eröffnet, wohl wissend, dass sie in weiten Teilen eine einzige Anklage werden würde, bei allen Dankes-Bekundungen für die vielen Hilfen auch aus der Bundesrepublik. Sie erinnert an ihren Besuch bei den Maidan-Protesten 2004 in Kiew und spricht einen Satz, den sie damals von vielen Demonstrantinnen und Demonstranten gehört habe. "Zusammen sind wir viele. Wir sind nicht zu besiegen", sagt Göring-Eckardt auf Ukrainisch.
Und auch das außergewöhnlich: Während der Rede Selenskyjs wehen auf dem Reichstagsgebäude drei Fahnen. Die deutsche, die europäische. Und die ukrainische.