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"Reichsbürger"-Prozess in München beginnt

Veröffentlicht 28. April 2024Zuletzt aktualisiert 17. Juni 2024

Die mutmaßliche "Terrorgruppe Reuß" wollte offenbar die Demokratie abschaffen, Politiker entführen und die Regierung übernehmen. Nun steht sie erneut vor Gericht. In München startet jetzt der insgesamt dritte Prozess.

Demonstranten mit Flaggen vom Königreich Preußen
Das Deutsche Reich ist für die Reichsbürger, hier mit Fahnen des Königsreichs Preußen im Oktober 2023 in Dresden, nie untergegangenBild: Daniel Schäfer/dpa/picture alliance

Es ist das dritte von insgesamt drei Verfahren. Dabei geht es um nicht weniger als einen geplanten Umsturz des Systems der Bundesrepublik Deutschland: Ab dem 18. Juni stehen vor dem Oberlandesgericht München acht so genannte "Reichsbürger" vor Gericht.

In zwei anderen, bereits gestarteten Verfahren stehen in Frankfurt am Main bereits die mutmaßlichen Rädelsführer - darunter Heinrich XIII. Prinz Reuß - sowie in Stuttgart der militärische Arm der mutmaßlichen Terrorgruppe vor Gericht.

In München startet nun der Prozess gegen acht übrige Angeklagte. Ihnen wird, so die Bundesanwaltschaft, die "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ vorgeworfen.  

Die Gruppe plante wohl nichts weniger als einen Staatsstreich: Sie wollte laut Anklage in den Deutschen Bundestag eindringen und Abgeordnete festnehmen. Besonders im Visier der kruden Vereinigung: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und CDU-Chef Friedrich Merz.

Eine bundesweite Razzia kam der mutmaßlich rechtsterroristischen Vereinigung "Patriotische Union" am 7. Dezember 2022 zuvor: 25 Personen wurden festgenommen, darunter Reuß, die meisten von ihnen sitzen seitdem in Untersuchungshaft. 382 Schusswaffen konnten sichergestellt werden und fast 150.000 Munitionsteile. Die Gruppe wird insgesamt auf rund 200 Personen geschätzt. 

Warten auf ein Signal für den Staatsstreich

Bereits Mitte Mai startete in Frankfurt der Prozess gegen den in der Öffentlichkeit wohl bekanntesten Angeklagten: Heinrich XIII. Prinz Reuß, ein 72 Jahre alter Immobilienmakler aus Frankfurt am Main. Er war in den Planungen der Reichsbürger-Gruppe wohl nach der Machtübernahme als Staatschef vorgesehen.

Bereits für den September 2022 hatte die Gruppe laut Anklage eine Art Signal von Mitverschwörern erwartet, um nach der Macht zu greifen. Zu diesen Mitverschwörern zählten die "Reichsbürger" geheime Gruppen, gebildet von Mitgliedern auch ausländischer Regierungen, von Armeen und Geheimdiensten.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser: "Wir müssen die Demokratie jeden Tag verteidigen"Bild: Nadja Wohlleben/REUTERS

Nach der Festnahme der Gruppe um Reuß gab es weitere Razzien und Verhaftungen. Bereits beim Prozessauftakt in Frankfurt sagte Innenministerin Nancy Faeser (SPD): "Es ist gut, dass sich ab heute auch die mutmaßlichen Rädelsführer der bislang größten Terrorgruppe von 'Reichsbürgern' vor Gericht verantworten müssen." Und weiter: "Es handelt sich nicht um harmlose Spinner, sondern um gefährliche Terrorverdächtige." 

Gewaltsame Übernahme einer Waffenschmiede?

Zur Gewalt bereit, fabulierte die Gruppe um Prinz Reuß offenbar über den Einsatz von Bundeswehrhubschraubern, geflogen von Unterstützern in der deutschen Armee. Sogar die gewaltsame Übernahme des deutschen Waffenkonzerns Heckler&Koch mit Sitz in Oberndorf am Neckar soll geplant gewesen sein. Vorgeworfen wird den Angeklagten Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung beziehungsweise deren Unterstützung. Alle drei Prozesse zusammen werden wohl Mammut-Verfahren werden, in denen auch die Ideologie der Gruppe zentrales Thema sein wird.

Wahnhafte Fantasien um tote Kinder

Und diese Ideologie hat es laut Anklage in sich: Nach Ansicht von Prinz Reuß soll Deutschland von einer Art innerem Staat, einem "deep state" regiert sein, der es sich zum Ziel gesetzt habe, den Mord an Kindern und Jugendlichen im großen Stil zu organisieren. Keine Fantasie war wahnhaft genug: Die Hochwasser-Katastrophe im Ahrtal in Nordrhein-Westfalen im Sommer 2021 war nach dieser Denkart nur der Versuch, den Mord an Kindern durch das Fluten alter Regierungsbunker zu vertuschen. Von 600 toten Kindern soll im Umfeld von Reuß' Anhängern die Rede gewesen sein.

Ein großer Schlag gegen die Reichsbürger-Szene gelang der Polizei im Dezember 2022Bild: Uli Deck/dpa/picture alliance

Frühere AfD-Abgeordnete in "Reichsbürger"-Prozessen angeklagt

Dagegen setzte die Gruppe nach Überzeugung der Staatsanwaltschaften die Idee der gewaltsamen Machtübernahme. Danach wollten die Verschwörer mit den früheren Kriegs-Alliierten aus den USA, Frankreich und Großbritannien, vor allem aber mit Russland, über einen neuen Friedensvertrag verhandeln. Um das Ganze vorzubereiten, veranstaltete die Gruppe offenbar Schießübungen und spähte schon mal die Räume des Bundestages aus, um am Tag der Machtübernahme bereit zu sein.

Unter den Angeklagten ist auch ein ehemaliger Oberstleutnant der Bundeswehr und die frühere Bundestagsabgeordnete der rechtspopulistischen "Alternative für Deutschland" (AfD), Birgit Malsack-Winkemann, eine ehemalige Richterin. Sie steht zusammen mit Prinz Reuß in Frankfurt vor Gericht. Im neuen Staat der "Reichsbürger" war Malsack-Winkemann offenbar als Justizministerin vorgesehen.

"Reichsbürger" - gefährliches Milieu von fast 20.000 Menschen

Die "Reichsbürger" insgesamt werden in Deutschland von den Sicherheitsbehörden auf 20.000 Menschen geschätzt, davon seien etwa 2300 gewaltorientiert. Gemeinsam sind ihnen die Ablehnung der Demokratie, monarchistische Tendenzen, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus. Die "Reichsbürger" erkennen die Nachkriegsordnung und die Bundesrepublik als legitimen Nachfolger des Deutschen Reiches nicht an. Teilweise drohen "Reichsbürger" offen mit Gewalt oder üben sie aus, sie drohen auch mit Entführungen, etwa von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

Seit seiner Festnahme im Dezember 2022 in Frankfurt am Main sitzt Heinrich XIII. Prinz Reuß in UntersuchungshaftBild: Boris Roessler/picture alliance/dpa

Der Autor Tobias Ginsburg hat acht Monate verdeckt in der Szene recherchiert. Während der Corona-Pandemie von 2020 bis 2023 tauchte er auch bei radikalen Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern unter. Er sagte der DW im März vergangenen Jahres auf die Frage, ob die Bewegung wirklich eine Gefahr darstellt: "Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, wie es zunächst scheint. Denn die Reichsbürger sind keine einheitliche Bewegung, nicht ein eigener Typus des Extremismus. Das ist mehr eine Verschwörungstheorie, die tief verankert ist in der deutschen Geschichte und im Nationalsozialismus." Aber die Gruppe teile die Fantasie aller rechtsextremen Aktivisten: "Es ist die Idee einer homogenen Gesellschaft, ohne die Anderen, die Fremden." 

Für die Angeklagten gilt bis zu einem etwaigen Urteil die Unschuldsvermutung. In allen drei Prozessen wird mit Urteilen wohl erst im nächsten Jahr gerechnet. 

Dieser Artikel wurde erstmals am 28. April 2024 veröffentlicht und am 21. Mai sowie am 13. Juni aktualisiert

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