Nie zuvor gab es so viele Binnenflüchtlinge wie 2019: Mehr als 50 Millionen Menschen flohen, ohne Grenzen zu überqueren. Sie wollten Krieg und Gewalt entrinnen, aber auch Naturkatastrophen entkommen.
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Mehr als 33 Millionen Menschen sind im vergangenen Jahr innerhalb ihres eigenen Landes vertrieben worden. Dadurch erhöhte sich die Zahl der Binnenflüchtlinge auf insgesamt 50,8 Millionen weltweit. 45,7 Millionen flohen vor Konflikten und Gewalt, 5,1 Millionen vor anderen Katastrophen. Das geht aus dem Jahresbericht der in Genf ansässigen Beobachtungsstelle für intern Vertriebene (IDMC) hervor.
Das Schicksal der Menschen, die zwar aus ihrer Wohnregion, doch nicht über Grenzen geflüchtet seien, werde international zu wenig beachtet, sagte Jan Egeland, Chef der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council, zu der die Beobachtungsstelle gehört. "Wir versagen alle dabei, die Gefährdetsten zu schützen", erklärte er.
Corona als Verstärker
Die Corona-Pandemie mache die Situation dieser Menschen noch prekärer, warnt das IDMC. Binnenvertriebene hätten in oft überfüllten Lagern oder Notunterkünften keinen ausreichenden Zugang zur Gesundheitsversorgung; sie seien in Krisenzeiten besonders bedroht, erklärte IDMC-Direktorin Alexandra Bilak.
Konflikte und Gewalt waren laut dem Bericht allein im vergangenen Jahr Auslöser für die Binnenflucht von 8,5 Millionen Menschen, unter anderem in Syrien, der Demokratischen Republik Kongo, in Äthiopien und im Südsudan. Die IDMC-Expertin für Strategie und Forschung, Bina Desai, sagte, die Zivilgesellschaft müsse gestärkt werden, um Staaten zu stabilisieren.
Regierungswechsel als Chance
Manchmal ergäben sich Chancen durch einen Regierungswechsel, wie in Äthiopien, oder durch ein Umdenken bei den Verantwortlichen. Auch wenn die Zahlen dies noch nicht belegten, gebe es dort und in Ländern wie Somalia, Uganda oder Afghanistan vielversprechende Ansätze, um die Zahl von intern Vertriebenen zu reduzieren, so Desai. In Somalia beispielsweise setze die Regierung nicht mehr alles daran, Flüchtlinge an den einstigen Wohnort zurückzubringen - wo sie dann ihrerseits Menschen, die in ihre alten Behausungen gezogen sind, vertreiben.
Auch Maßnahmen zum Klimaschutz wirken langfristig günstig - so, wie umgekehrt der Klimawandel und die steigende Zahl von Extremwetter-Ereignissen viele Regionen ins Chaos stürzt. Mehrere Millionen Menschen flohen allein wegen des Zyklons Fani in Indien und Bangladesch, aufgrund der Stürme Idai und Kenneth in Mosambik und wegen des Hurrikans Dorian auf den Bahamas in andere Regionen ihres Landes.
Die meisten Vertreibungen durch Naturkatastrophen seien jedoch zeitlich befristet, etwa nach einer Evakuierung, sagte IDMC-Direktorin Bilak. Die meisten dieser Menschen könnten rasch zurückkehren, "solange ihr Zuhause nicht komplett zerstört worden ist".
jj/sam (dpa, afp, epd)
Die Leidtragenden der Syrien-Offensive
Vor rund drei Wochen marschierten türkische Truppen in Nordsyrien ein. Nun hausen tausende Binnenflüchtlinge in verlassenen Schulen und die Versorgung ist miserabel. Eine Fotoreportage von Karlos Zurutuza aus Tell Tamer.
Bild: DW/K. Zurutuza
Flucht - egal wie
Mehr als 200.000 Menschen in Nordsyrien sind innerhalb des Landes vertrieben worden, so UN-Berichte, seitdem die Türkei am 9. Oktober ihre Offensive in der Region gestartet hat. Am schwersten hat es die Grenzstadt Ras al-Ain getroffen, in die das türkische Heer einmarschiert ist und die zusätzlich aus der Luft angegriffen wurde.
Bild: DW/K. Zurutuza
"Wir haben alles verloren"
Die meisten Flüchtlinge sind Kurden. Die Zivilisten, die in der Stadt geblieben sind, sind zum größten Teil Araber - und die halten weiterhin Kontakt mit ihren bisherigen Nachbarn. "Gestern haben wir telefoniert. Sie erzählen, unser Haus sei von Islamisten geplündert worden", klagt dieser Mann. "Wir haben alles verloren."
Bild: DW/K. Zurutuza
Jeder Krümel hilft
Viele internationale Nichtregierungsorganisationen (NGO) sind ebenfalls aus der Region abgezogen, seit die Regierungstruppen bei Tell Tamer stationiert sind. Die Menschen in den Dörfern brauchen diese Organisationen aber, um ihre Versorgung zu sichern. Sie kämpfen jetzt mit Hilfe lokaler NGOs gegen den täglichen Mangel, so wie diese Frauen, die für Brot anstehen.
Bild: DW/K. Zurutuza
Nicht genug für alle
In Tell Tamer und anderen Orten der Gegend sind hunderte Vertriebene angekommen. Auch sie sind auf die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen angewiesen. "Sie lassen sich in verlassenen Dörfern nieder", berichtet Hassan Bashir, Koordinator einer lokalen NGO, der DW. "Viele dieser Dörfer liegen in der Nähe von Orten, die Türkei-treue Milizen oder IS-Schläferzellen kontrollieren."
Bild: DW/K. Zurutuza
Streng rationierte Versorgung
Dieser arabische Binnenflüchtling aus Ras al-Ain hat vier Ehefrauen und kann sich selbst und seine Kinder kaum ernähren. Die örtlichen NGOs haben die Lebensmittellieferungen auf eine Ration pro Familie beschränkt. "Aber meine Kinder können doch nichts dafür!", sagt er, nachdem er eine einzige Türe mit Lebensmitteln bekommen hat. "Sie sind doch nur Kinder!"
Bild: DW/K. Zurutuza
Ende des Unterrichts
Die Schulen in Nordsyrien haben seit Beginn der Offensive flächendeckend geschlossen. In einigen von ihnen wohnen jetzt Binnenflüchtlinge aus Ras al-Ain. Die Menschen, die es sich leisten können, ziehen in Städte wie al-Hasaka weiter, rund 80 Kilometer südlich gelegen. Andere müssen trotz der Angriffe ausharren.
Bild: DW/K. Zurutuza
Provisorische Unterkunft
50 kurdische Familien leben in dieser Schule in Tell Tamer - ohne Elektrizität, ohne fließendes Wasser. Die hygienischen Zustände werden immer schlechter, Ärzte fürchten einen Ausbruch der Cholera und anderer Krankheiten. "Wenn es so weitergeht, stehen wir vor einer riesigen humanitären Krise", so ein hier ansässiger Arzt zur DW.
Bild: DW/K. Zurutuza
Krank und gestrandet
Das Krankenhaus in Tell Tamer schafft es gerade so, die Verwundeten zu versorgen. Anderen kann es nicht helfen, so zum Beispiel Krebskranken. Zwei Betroffene berichten der DW, dass sie eigentlich gerade in Damaskus ihre Chemotherapie beginnen sollten, bevor die Offensive startete. Die derzeitige Situation macht es aber unmöglich, dorthin zu reisen.
Bild: DW/K. Zurutuza
Kein Spielplatz für kleine Kinder
Das christlich geprägte Dorf Tell Nasri in der Nähe von Tell Tamer ist wie leergefegt, seitdem der "Islamische Staat" hier gewütet hat. Die meisten Familien haben ihre Heimat während der IS-Belagerung verlassen. Jetzt siedeln vertriebene kurdische Familien in der Trümmerlandschaft, weil sie keine andere Zuflucht finden können.
Bild: DW/K. Zurutuza
Oft bleibt nur beten
Viele Kirchen in Tell Nasri wurden vom IS gesprengt - so wie diese, in deren Ruinen diese beiden Jungen stehen. Die schwierigen Lebensbedingungen sind noch das kleinste Problem der beiden. Augenzeugen berichten der DW, dass sie aus einem Nachbardorf von mutmaßlichen Islamisten angegriffen wurden.