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Religion oder Werteunterricht?

10. April 2005

Diskussion statt Freistunden: Berlin will, dass sich seine Schüler über Lebensgestaltung, Normen und kulturell-religiöse Traditionen unterhalten. In einem neuen Schulfach "Werteunterricht". Die Gegenwehr ist heftig.

Das Leben erklärenBild: AP


Samstag, 9. April, Berlin, Bildungsparteitag der SPD: Mit großer Mehrheit von 166 zu 51 Stimmen (77 Prozent) beschließen die Delegierten, einen verpflichtenden, religiös und weltanschaulich neutralen Werteunterricht einzuführen. Das Fach soll ab der 7. Klasse unterrichtet werden. Es kann nicht zu Gunsten eines Religionsunterrichts abgewählt werden. Damit soll in der Hauptstadt der Zustand beendet werden, dass gut die Hälfte der 300.000 Schüler statt des freiwilligen Religions- und Weltanschauungsunterrichtes Freistunden wählen.

Was ist besser: Konfessioneller oder weltanschaulich neutraler Unterricht?Bild: dpa

Laut Grundgesetz ist Religion in allen Bundesländern ordentliches Schulfach. Für den Stadtstaat Berlin gilt aber die so genannte Bremer Klausel, die besagt, dass Landesregelungen weiter gelten, die bei der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 in Kraft waren. In Berlin gab es damals keinen staatlichen Religionsunterricht. Heute gibt es ihn und wird es auch weiterhin geben - als das, was es die letzten Jahre auch war: freiwilliges Zusatzangebot. Außerdem sollen die Kirchen im Werteunterricht eigene Projekte gestalten dürfen.

Scharfe Kritik

Bild: dpa

Der Vorsitzende der nordrhein-westfälischen CDU, Jürgen Rüttgers, kritisierte, die Idee des Werteunterrichts könne "nur von Leuten kommen, die nicht verstanden haben, was Kinder für ein selbstbestimmtes Leben brauchen: Werte und eben Gott". Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) und sprach von einer "schrecklichen Fehlentwicklung" bei den Sozialdemokraten in der Hauptstadt. "Wenn man den Religionsunterricht abschafft und damit die Möglichkeit, feste christliche Werte zu erkennen, dann lässt man die Menschen im Stich", erklärte er.

Bild: AP

Das Christentum sei "eine Religion, die über alle Konfessionen und Religionen hinweg verbindet", ließ Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) wissen. "Wir brauchen einen offensiven Umgang mit dem Christentum in unserem Land", sagte er. Die Berliner CDU und die katholische Kirche haben bereits angekündigt, notfalls gegen den staatlich verordneten Werteunterricht zu klagen und ein Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anzustrengen. Es soll prüfen, ob ein Pflichtfach Werteunterricht ohne Abwahlmöglichkeit gegen die verfassungsrechtlich garantierte Glaubensfreiheit verstößt.

Beten in BerlinBild: AP

Auch die Islamische Föderation sieht sich durch die Vorstellungen der Berliner SPD zum Werteunterricht diskriminiert. Es stelle sich nämlich die Frage, "was mit den Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften passiert, die keine Kirchen sind", erklärte der Vorsitzende des Dachverbands, Burhan Kesici. Es wäre "nicht hinnehmbar", wenn die Islamische Föderation, der Humanistische Verband, die Jüdische Gemeinde sowie Buddhisten und Alewiten "nicht mehr Ansprechpartner für das neue Fach" wären. Dann wäre dies "kein verbindender, sondern ein trennender und diskriminierender Wertunterricht, der eine Kluft zwischen den Weltanschauungen und Religionen zur Konsequenz hätte".

Lesen Sie im zweiten Teil, ob die Schulen ein neues Fach überhaupt verkraften können.

GEW weiß nicht, was sie will

Werte sind überallBild: AP

"Wir brauchen kein neues Unterrichtsfach", stellt Sanem Kleff vom Bundesausschuss für Multikulturelle Angelegenheiten der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW klar. Nach den Vorstellungen der Gewerkschaft soll die Vermittlung von Wissen über die Weltreligionen aber in andere Fächer integriert werden. Werteerziehung könne nicht Aufgabe eines einzelnen Unterrichtsfaches sein, sondern nur von der Schule insgesamt. Auf strikte Ablehnung der Gewerkschaft stößt allerdings die Forderung von CDU, FDP und der Kirchen nach einem Wahlpflichtfach Religion oder Ethik. Ein allgemein bildender Unterricht wie Ethik oder Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) sei "grundsätzlich pädagogisch nicht mit einem bekenntnisgebundenen Religions- oder Weltanschauungsunterricht austauschbar", so der GEW-Landesvorstand.

Bild: dpa zb

Das Fach - wenn es denn verbindlich wird - müsse "zusätzlich mit zwei Wochenstunden ausgestattet werden ohne Kürzung in anderen Fächern". Zudem müssten "eine spezifische Fachdidaktik und einschlägige Lehr- und Lernmittel erarbeitet werden", fordert die GEW. Bisher sei jedoch vollkommen unklar sei, wie das Unterrichtsfach finanziert wird und wer es unterrichten soll. Nach Ansicht von Bildungsexperten könne erst in fünf bis sieben Jahren mit dem vollständigen Unterricht begonnen werden. -- Es sei denn, die Kollegen in Berlin lernen von ihren Nachbarn in Brandenburg.

Schule machen?

In Brandenburg gibt es bereits das Fach LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde). Es gestattet den Schülern, sich vom konfessionellen Religionsunterricht abzumelden. Das Fach Religion hat nicht denselben Stellenwert, da die Noten in Religion nicht versetzungsrelevant sind. In Thüringen werden Religionsunterricht und Ethikunterricht parallel angeboten. Auch in Bremen ist Religion kein ordentliches Schulfach.

Gotthold Ephraim LessingBild: dpa

Außerdem sind Werte und Normen ohnehin nicht auf ein bestimmtes Fach beschränkt. "Lessings Ringparabel im Deutschunterricht ist allerbeste Wertevermittlung, kein Geschichtsunterricht ist ohne Ideengeschichte zu denken und auch Erdkunde, Physik, Biologie oder andere Fächer können auf Wertedebatten nicht verzichten", argumentierte Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) in einem Beitrag für den Berliner "Tagesspiegel". Die Einführung eines Werteunterrichts sei die richtige Antwort auf die gesellschaftlichen Veränderungen: Gerade in einer so multikulturellen Stadt wie Berlin mit rund 440.000 Ausländern sei es wichtig, dass sich alle Schüler gemeinsam über grundlegende Werte austauschten.

Doch die Angst unter den LER-Gegnern ist groß, dass das Beispiel Berlin eines Tages auch in anderen Bundesländern bei fortschreitender Säkularisierung Schule machen könnte. (arn)

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