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Politik

Religionen sollen Brücken bauen

12. November 2020

Es ist eine ungewöhnliche Tagung in Lindau: Religionsvertreter aus zahlreichen Ländern sprechen vier Tage über Frauen und Glauben. Und sie drängen auf eine eigene Rolle von Frauen als Vermittlerinnen in Konflikten.

Religions for Peace | Lindau am Bodensee
Vertreterinnen von fünf Religionen lesen Texte aus einer heiligen Schrift am Ring for PeaceBild: Religions for Peace

Lindau ist weit weg. Bei Schwester Agatha im nigerianischen Abuja herrschen mittags Temperaturen von über 35 Grad. Sie ist digitale Teilnehmerin bei der Konferenz "Frauen, Glaube und Diplomatie" (Women, Faith & Diplomacy) der religionsübergreifenden Organisation "Religions for Peace" (RfP). "Es ist so wichtig, dass wir über die Rolle von Frauen sprechen", sagt die 47-Jährige. "Frauen in den Religionen sollten stärker informiert und eingebunden sein. Wir sind Teil der Geschichte und haben unsere eigene Geschichte."

Schwester Agatha ist aus Abuja in Nigeria zugeschaltetBild: Privat

"Religions for Peace" (RfP) ist nach eigenen Angaben die weltgrößte interreligiöse Nichtregierungsorganisation. Die Welt der Religionen ist - so wirkt es beim Blick auf die Repräsentanten - männlich. Dem will die Organisation bewusst etwas entgegensetzen. Vor einem Jahr bestimmte die RfP-Vollversammlung Azza Karam zur Generalsekretärin. Eine Weltbürgerin: Die in Ägypten geborene und aufgewachsene Muslima lernte und lehrte zunächst in den Niederlanden, deren Staatsbürgerschaft sie auch hat, und arbeitete seit 20 Jahren in New York bei UN-Organisationen und in deren Umfeld. Bis zu ihrer Wahl in Lindau.

"In der Regel sind Männer die Repräsentanten der Religionen und jene, die zitiert werden", sagt Karam. "Aber Frauen sind die, die den Glauben im Alltag und an der Basis leben." Am Mittwochabend gab es eine kleine interreligiöse Feier am "Ring for Peace", einer gut sieben Meter hohen Skulptur aus verschiedenen Hölzern aus aller Welt. Sieben Frauen sprachen im Schein von Kerzen: Karam und die Oberbürgermeisterin von Lindau, außerdem aus der RfP-Region Lindau-Augsburg eine Bahai und eine Christin, eine Jüdin, eine Muslima und eine Buddhistin.

"Nicht über Männer definieren"

Wenn Karam spricht, wird die Unterscheidung zwischen Religion (englisch: religion) und Glaube (englisch: faith) deutlich. Es geht bei RfP sehr bewusst nicht um Religion als Merkmal der Abgrenzung, sondern um Religion und Glauben als verbindendes Element. Dafür stehe die Perspektive der Frauen. Das betont im Gespräch mit der Deutschen Welle auch Schwester Agatha: "Frauen können mit dieser Perspektive so viel leisten, in der Friedensarbeit zum Beispiel oder auch bei Führungsaufgaben. Wichtig ist: Wir sollten uns nicht über die Männer definieren."

Die RfP-Generalsekretärin Azza Karam (r.) vor dem Bildschirm mit Schwester AgathaBild: Christian Flemming/Religions for Peace

Die Nigerianerin ist eine Nonne der "Kongregation der Töchter der gnädigen Mutter Maria", aber sie ist keine schlichte Betschwester. Sie hat einen Universitätsabschluss in öffentlicher Verwaltung, einen in Internationalen Beziehungen und Diplomatie. Seit langem arbeitet sie als Sekretärin für interreligiösen Dialog im Erzbistum Abuja und leitet als Co-Vorsitzende das "Women of Faith Peacebuilding Network". Und das in einem Land, das immer wieder auch von religiösen Konflikten erschüttert wird.

Das fällt auf in Lindau und während der digitalen Diskussionen und Debatten. Gerade aus dem afrikanischen Raum und dem Nahen und Mittleren Osten kommen während der virtuellen Debatten beeindruckende Referentinnen. Da ist Nayla Tabbara aus dem Libanon, Professorin für interreligiöse und islamische Studien, Gründerin und Direktorin einer Stiftung für humanitäre Arbeit und Wertevermittlung. "Religiöse Erziehung vermittelt uns, gute Gläubige zu sein. Aber unser Glaube fordert uns heraus, gute Bürger zu sein, nicht nur für das Wohl unserer eigenen Gemeinschaft, sondern für das gemeinsame Wohl, für Solidarität, Versöhnung und Gerechtigkeit." Andere Frauen, die längst in ihren Religionen Verantwortung wahrnehmen, kommen aus dem Irak oder Bosnien-Herzegowina, aus Kamerun oder Algerien. Und manche riskiert mit solcher Arbeit sehr viel.

"Brücken bauen"

Im Gespräch mit der Deutschen Welle äußert sich Karam auch zur Solidarität mit Frauen, deren Engagement und deren Unterdrückung gerade viele Menschen weltweit bewegt. "Die Frauen, die inhaftiert sind, sind nicht allein", sagt sie auf die Frage nach Oppositionellen und Regimekritikerinnen in Saudi-Arabien und dem Iran. Und zu den mutig für Demokratie einstehenden Frauen in Belarus: "Diese protestierenden Frauen sind nicht allein."

Ja, es gebe Trennungen zwischen säkularen und religiösen feministischen Bewegungen. Aber "Brücken zu bauen über diese Trennungen ist extrem wichtig für alle Aktivistinnen weltweit, aber besonders in den Situationen, in denen Frauen in sehr harten Zeiten militaristischen oder autoritär unterdrückenden Regimen gegenüberstehen." Darum gehe es heutzutage darum, Brücken zu bauen zwischen Frauen unterschiedlicher religiöser Lager, aber auch zwischen religiösen und säkularen Frauen.  

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist für viele Religionsvertreterinnen eine InspirationBild: Christian Flemming/Religions for Peace

Zum Auftakt am Dienstag sprach die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Gut möglich, dass sie in Zeiten ohne Corona nach Lindau gereist wäre, so wie 2019 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Gast war. "Frieden ist nur dann nachhaltig, wenn Frauen am Friedensprozess beteiligt sind", sagte Merkel in ihrem gut zweiminütigen Video-Gruß. "Allzu oft wird darüber hinweggesehen, was Frauen für ein friedliches Miteinander bewirken. Im kleinen wie im großen."

Und die Kanzlerin brachte eine ungewöhnliche Kritik, die in Deutschland indes kaum jemand zur Kenntnis nahm. "Es sind vor allem Friedensnobelpreisträgerinnen, die als Vorbilder herausragen und mit ihrem Mut viele andere inspirieren. Unter den bislang 135 Geehrten finden sich bislang allerdings nur 17 Frauen. Ohne Zweifel gibt es aber weitaus mehr Frauen, die für ihr friedensstiftendes Wirken eine Auszeichnung verdient hätten." Einige Male nahmen in Lindau Frauen Bezug auf die deutsche Kanzlerin. "Ein Vorbild an leadership", sei Merkel, sagt Karam. Und auch Schwester Agatha im fernen Abuja, die Merkel hörte, fängt an zu schwärmen. "Sie bedeutet so vielen eine Menge Motivation und Inspiration." Bis Freitag bleibt die Ordensfrau, die im August 2019 am Treffen in Lindau teilnahm, dabei - via Livestream und Zoom.

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