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"Religionsführer haben überragende Bedeutung"

Christoph Strack | Tessa Clara Walther
6. Oktober 2021

Bei vielen Konflikten spielt Religion eine Rolle. Die UN-Sonderbeauftragte Nderitu fordert im DW-Interview von Religionen ein klares Nein zu jeder Gewalt. Und sie äußert sich auch zum Tigray-Konflikt in Äthiopien.

Alice Wairimu Nderitu, Sondergesandte des UN-Generalsekretärs
Bild: Tessa Walther/DW

Alice Wairimu Nderitu ist Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen zur Verhütung von Völkermord. In dieser Woche führt die Kenianerin, die langjährige Erfahrung in politischer Mediation hat, in Lindau Gespräche mit Religionsvertretern. Im Interview der Deutschen Welle äußert sich Nderitu, die auch UN-Unter-Generalsekretärin ist, zur positiven und negativen Rolle von Religion in Konflikten und warnt vor einer erneuten Eskalation in Äthiopien.

DW: Frau Nderitu, Sie waren seit Beginn Ihrer Amtszeit in Ruanda und in Srebrenica. Warum?

Alice Wairimu Nderitu: Es war mir wichtig, Bosnien-Herzegowina und Ruanda zu besuchen, wo es 1994 und 1995 Genozide gab. In beiden Fällen war es den Vereinten Nationen leider nicht gelungen, den Völkermord zu verhindern. Und beides hat die Welt zu schnell vergessen. In Bosnien hat es mich immer wieder entsetzt zu erleben, wie offen der Genozid heute geleugnet wird und die Mörder glorifiziert werden. Selbst der Bürgermeister von Srebrenica, der im Grunde jeden Tag an Massengräbern vorbeifährt, verleugnet die Gräuel.

Der Friedhof für den Genozid in Srebrenica Bild: DW/E.Musli

Und in Ruanda?

Dort gibt es überall im Land Gedenkstätten. Ich kann die Begegnung mit einer Frau in einer Kirche in Nyamata bis heute nicht vergessen. 1995 flohen Tutsi in das Gebäude und dachten, sie seien dort sicher. Aber es wurde für sie zum Friedhof. Noch heute sehen Sie an den Wänden die Spuren von Granaten und Gewehrkugeln. Sie sehen die Blutflecken an den Wänden, gegen die die Mörder die Köpfe von Kindern schlugen. Schrecklich! Diese Frau führt Besucher durch die Anlage, jeden Tag. Sie ist immer da. Ich fragte sie, wann sie mal einkaufe, koche. Und sie erwiderte: Nie - sie habe Angst, dass die Menschen vergäßen. Die lange Begegnung mit ihr zeigte mir, wie wichtig es ist, nicht zu vergessen, Information weiterzugeben, zu mahnen.

In der Gedenkstätte der ehemaligen Kirche von NyamataBild: Getty Images/AFP/S. Maina

War Ruanda der erste Genozid auf afrikanischem Boden? Würden Sie Verbrechen der Kolonialzeit damit gleichsetzen? Deutschland beschäftigt sich derzeit mit seiner Vergangenheit in Namibia…

Es ist letztlich nicht Aufgabe der Vereinten Nationen zu entscheiden, in welchem Fall es einen Völkermord gab. Für Bosnien und Ruanda gab es ja jeweils internationale Strafgerichte, die das beurteilten. Und es ist gut, wenn die Welt heute darüber spricht, was in Namibia oder in anderen Regionen Afrikas während der Kolonialzeit passierte, auch im Sklavenhandel. Sicher gab es dort fürchterliche Gräueltaten, in Belgisch-Kongo oder beim Mau-Mau-Krieg in Kenia, meinem Heimatland. Man muss das thematisieren und darf es nicht vergessen. Ich weiß, dass viele nicht darüber sprechen wollen, weil sie Angst haben, dass es um Reparationszahlungen geht. Aber manchmal sind solche Zahlungen eben die Anerkennung, dass die Gräuel wirklich passiert sind, oder eine Geste der Entschuldigung. Wir wissen alle, wie schrecklich Holocaust-Leugnung für die Überlebenden oder die Angehörigen ist. Das Vergessen anderer Gräuel ist für die Nachfahren ähnlich schlimm. Man braucht den Dialog, die Gesten, auch die Reparationen, um gemeinsam weiterzukommen.

Derzeit sind Sie bei "Religions for Peace" in Lindau zu Gast. Warum ist Ihnen das wichtig?

Seit fast zwei Jahren ist es die erste Konferenz, an der ich nicht nur virtuell teilnehme. Ich bin hier, weil mir diese Konferenz wichtig ist, denn es geht um das Thema Hassrede. 2019 hat Generalsekretär Guterres einen Aktionsplan gegen Hassrede im Internet vorgestellt. Seitdem suchen wir das Gespräch mit Religionsführern und -akteuren.

Alice Wairimu Nderitu beim DW-Interview in LindauBild: Tessa Walther/DW

Warum? Ist Religion gefährlich? 

Wir haben über Srebrenica und Ruanda gesprochen. Bei beiden Völkermorden spielten Religionsführer im Vorfeld eine negative Schlüsselrolle. Nach den Gräueltaten nahmen sie durchaus eine positive Rolle ein, doch während der Morde blieben sie in der negativen Rolle. Nehmen Sie die Morde in Kirchen in Ruanda. Manche katholischen Priester waren an der Planung der Verbrechen beteiligt. In Bosnien wurden die Muslime ermordet, weil sie als Gefahr für die slawische Sache gesehen wurden – das hatte religiöse Aspekte. Deshalb ist für uns der Austausch mit Religionsführern absolut wichtig.

Was wollen Sie bei ihnen erreichen?

Sie haben Autorität, sie haben Einfluss. Menschen folgen ihnen - vielleicht auch bis hin zum Völkermord. Bedenken Sie: Es gibt in der Geschichte nicht einen Völkermord, eine Gräueltat, ein Menschheitsverbrechen, das nicht durch Hassrede vorbereitet und begleitet wurde. Hassrede ist der wesentliche Faktor. Zugleich können Religionsführer mit ihrer Rede auch beruhigend wirken und in die richtige Richtung weisen. Das ist mein Appell an die Religionsführer und -akteure. Sie haben beim Kampf gegen Hassrede eine herausragende Bedeutung. Im Idealfall könnten religiöse Gemeinschaften vor Ort sogar Frühwarnsysteme sein, bevor es zu Gewalt kommt. Denn weltweit wächst die Bedeutung von Religion, sie nimmt nicht ab.

Alice Wairimu Nderitu bei der Konferenz "Religions for Peace"Bild: Christoph Strack/DW

Noch eine aktuelle Frage: Derzeit sorgt die Lage in Äthiopien und das Vorgehen der politischen Führung im Tigray-Konflikt weltweit für Beunruhigung. Wie sehen Sie die Lage?

Ich sehe Faktoren, die für die Gefahr eines Völkermords stehen. Und es beunruhigt mich extrem, wenn ich Äußerungen der politischen Führung in Äthiopien höre. Da werden andere Menschen als Krebsgeschwür, als Unkraut, als Hyänen bezeichnet, die vernichtet gehörten. Solche Worte konnte man vor dem Holocaust hören, auch vor dem Völkermord in Ruanda. Es ist erschütternd! Wir müssen alle Bemühungen unterstützen, dem Einhalt zu gebieten und die Gewalt zu stoppen. Die Afrikanische Union muss sich um Beilegung des Konflikts bemühen. Aber uns läuft die Zeit davon.

Flüchtlinge in der Tigray-Region, Mai 2021Bild: Ben Curtis/AP Photo/picture alliance

Wieso?

Noch ist Regenzeit, da kann man Gespräche führen und schlecht militärisch kämpfen. Wenn in wenigen Wochen die Regenzeit endet, befürchte ich neue Gewalt. Es gibt ethnische Vielfalt, es gibt in der Verfassung Regelungen für einen ethnischen Föderalismus, für Bundesstaaten. Aber man hat sich nicht bemüht, das umzusetzen. Stattdessen gab es sehr strikte ethnische Trennungen. Ich appelliere an die äthiopische Führung, den Konflikt politisch und friedlich zu lösen und die Verfassung umzusetzen.

 

Die Kenianerin Alice Wairimu Nderitu wurde im November 2020 von UN-Generalsekretär António Guterres zur Sonderbeauftragten zur Verhütung von Völkermorden ernannt und hat den Rang einer Unter-Generalsekretärin der Vereinten Nationen. Seit Jahrzehnten ist sie eine in Afrika geschätzte Akteurin der Friedensarbeit und Gewaltprävention und wirkte bei Mediationen und Versöhnungsprojekten in ihrem Heimatland Kenia und anderen Ländern des Kontinents mit. Nach einem Bachelor-Abschluss in Kunst, Literatur und Philosophie 1990 folgte im Jahr 2013 noch ein Master-Abschluss zu "Armed Conflict and Peace Studies".

 

Das Interview führten Tessa Clara Walther und Christoph Strack.

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