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Literatur

René Böll: "Mein Vater war größenblind"

Sabine Peschel
21. Dezember 2017

Heinrich Böll wurde am 21. Dezember vor 100 Jahren geboren. Anlässlich dieses Gedenktags machte sich sein Sohn René Böll noch einmal Gedanken über den 1985 verstorbenen Literaturnobelpreisträger.

Heinrich Böll
Bild: picture-alliance/H. Wieseler

René Böll, Jahrgang 1948, ist einer von zwei überlebenden Söhnen des deutschen Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll. Er ist ein mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichneter Bildender Künstler, Lithograph, aber auch versiert in chinesischer Tuschemalerei. Viele Jahre lang leitete er den Lamuv-Verlag, er engagierte sich in der Friedensbewegung, und jetzt, im Alter, dichtet er auch. Daneben aber ist er vor allem eines: Nachlassverwalter des literarischen Erbes seines Vaters und Mitbegründer der Heinrich-Böll-Stiftung. 

Der Vorwurf des "Kleine-Leute-Autors"

In dieser Eigenschaft ist er kurz vor Heinrich Bölls 100. Geburtstag am 21. Dezember ein oft gefragter Gesprächspartner. Schon lange vor dem medialen Auftrieb anlässlich des Gedenktags, im September im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin, sprach die Autorin Tanja Dückers ausführlich mit dem Sohn des 1985 verstorbenen Autors. Wie beobachtet er, wie sein Vater heute als Schriftsteller wahrgenommen wird? Wie kam es zu den bitteren öffentlichen Vorwürfen gegen den gefeierten Nobelpreisträger - im selben Jahr 1972? Was hat ihn als Mensch und als Schriftsteller ausgezeichnet? Es waren sehr direkte, unverstellte und persönliche Innensichten, die der 69-jährige René Böll mit dem Publikum teilte.

Sohn und Nachlassverwalter: René BöllBild: DW/S. Peschel

Heinrich Böll wurde 1917 in Köln geboren und wuchs in einem kleinbürgerlich-katholischen Milieu auf. Böll sei ein "Idylliker des Waschküchenmiefs" und ein "ehrenvolles Ärgernis bei uns im Land", schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung noch 1971, jemand, der sich von formalen Experimenten immer fern gehalten habe. "Da hat man ihm vorgeworfen, er würde über Waschküchen schreiben, 'Waschküchenmief' und 'Kleine Leute Mief'", erinnert sich René Böll, "dann hat er seine Texte nachgelesen und erwidert: 'Eine Waschküche kommt nie vor.'" Und der Sohn fügt lächelnd hinzu: "Weil er die ja auch nie betreten hat, muss man dazu auch mal sagen."

Familienfoto der Bölls von 1958Bild: picture-alliance/dpa/R.Vennenbernd

Böll schrieb an gegen Krieg und Faschismus

Doch René Böll wird ernst, wenn es um die Grundeinstellung seines Vaters ging. Zum Vorwurf der Kleine-Leute-Schreiberei habe sein Vater selbst sehr gut Stellung genommen: "Er hat mal gesagt: 'Ich bin größenblind.' So wie man farbenblind ist. Das finde ich einen ganz tollen Satz." So habe sein Vater auch geschrieben, schon in seinen "Briefen aus dem Krieg", die erst 16 Jahre nach Heinrich Bölls Tod veröffentlicht wurden, und in seinen frühen Nachkriegsgeschichten "Wanderer, kommst du nach Spa...", mit denen er bekannt wurde. Den geringschätzigen Vorwurf der "Betroffenheitsliteratur" hält sein Sohn für verfehlt. Dass Böll sich als Autor in Menschen hineinversetzte, sei im Gegenteil seine große Stärke: "Diese Sachen fand ich bei ihm sehr wichtig, dieses ganz klare: Die Leute sind alle gleich viel wert. Kein Hochmut, kein Dünkel, kein Klassendenken. Obrigkeitsdenken war ihm vollkommen fremd."

1968 demonstrierte Heinrich Böll gegen die NotstandsgesetzeBild: picture-alliance/dpa/UPI

Bölls Werke der 1950er und 1960er Jahre spiegelten den Richtungsstreit zwischen ehemaligen Nazis und Dissidenten: "Haus ohne Hüter" (1954), "Irisches Tagebuch" (1957), die Satire "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen" (1958), "Billard um halb zehn" (1959), und sein Erfolgsroman "Ansichten eines Clowns" (1963). Er war ein politischer Autor, der in den 1960er Jahren mit "Ende einer Dienstfahrt" (1966) und 1971 mit "Gruppenbild mit Dame" Bestsellerauflagen erzielte. Als Schriftsteller wurde er in Deutschland gefeiert. Spätestens seit seiner Ehrung mit dem Literaturnobelpreis 1972 war er weltberühmt.

War er mehr politischer Mahner als Schriftsteller?

Warum hat sich die Wahrnehmung Bölls in der Öffentlichkeit in den 1970er Jahren dann so verändert? 1972, im selben Jahr, in dem er den Literaturnobelpreis erhielt, veröffentlichte Böll im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" einen Appell an die Terroristen der Roten Armee Fraktion, kritisierte aber auch gleichzeitig den Umgang der "Bild"-Zeitung mit Ulrike Meinhof und Konsorten. "Der Spiegel" veröffentlichte den Essay unter dem Titel "Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?"

Am 10. Dezember 1972 überreichte Kronprinz Carl Gustaf von Schweden Heinrich Böll den NobelpreisBild: AP

"Dieser Artikel war natürlich schon gravierend", berichtet René Böll. "Vor allem deswegen, weil der 'Spiegel' den Titel geändert hatte. Mein Vater hätte immer 'Ulrike Meinhof' gesagt, nie 'Ulrike'. Diese Nähe, die da impliziert wurde, die existierte gar nicht." Er habe sie nie getroffen, sagt René Böll. "Das war ein bisschen demagogisch vom 'Spiegel'. Es gab danach mehrere hundert Zeitungsartikel gegen meinen Vater. Eigentlich gegen die ganze Familie. Diese Form kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Übelster Art, von Beschimpfungen im Bundestag, als Pinscher, als Banause, ich weiß nicht, als was alles. So hat man meinen Vater ganz gezielt diffamiert als Kommunisten oder Anarchisten, besonders in der Springer-Presse natürlich."

Nobelpreis und Ansehensverlust

Als engagierter Schriftsteller blieb Böll trotzdem erfolgreich. 1974 erschien sein wohl bekanntestes Werk, die Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum". Böll trat als Mahner auf, warf der Springer-Presse "nackten Faschismus" vor. Sein Beitrag zur Gewaltdebatte der 1970er-Jahre verkaufte sich zwei Millionen Mal, wurde in über 30 Sprachen übersetzt und von Volker Schlöndorff verfilmt. Insgesamt wurden 13 Bücher von Böll verfilmt, er war von 1970 an Präsident des deutschen, von 1972 bis 1974 des internationalen PEN. "Mein Vater konnte ganz einfache Sachen unheimlich schön schildern. 'Billard um halb Zehn' wird auch immer noch unterschätzt, finde ich", räsoniert der Sohn. 1979 erschien Bölls formal interessanter Roman "Fürsorgliche Belagerung", der aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird. "Frauen vor Flusslandschaften" wurde erst 1985 posthum veröffentlicht, ein Buch, das René Böll besonders schätzt: "Ein sehr resignatives Buch, aber auch sehr interessant in Bezug auf das Ende der Bonner Republik."

Heinrich Böll (l.) engagierte sich für russische Autoren wie Alexander Issajewitsch Solschenizyn (r.) und Lew KopelewBild: Imago/Sven Simon

Als schreibender Zeitzeuge, besonders der Nachkriegszeit, wird Böll gerade wiederentdeckt. "Ulrich Greiner hat in der 'Zeit' letztens geschrieben, 'Man hat die literarische Qualität Bölls noch gar nicht entdeckt.' Und das ist auch meine Meinung", erzählt René Böll. Aber wird der Autor auch noch gelesen? "Es ist sehr schwer zu sagen, wie viel Böll noch gelesen wird, Bücher verkauft werden sehr wenige. Aber es sind ja noch Millionen Bücher da. Wir wissen nicht, wo die stehen, ob sie weggeworfen wurden oder von den Leuten noch gelesen werden."

Die Neubewertung beginnt mit den Kriegstagebüchern

In diesem Herbst erschienen Bölls Kriegstagebücher. "Das sind drei kleine Taschenkalender, die mein Vater im Krieg mit hatte, und zwar von Oktober 1943 bis September 1945." René Böll hat sie mit herausgegeben und manche Stellen mühevoll entziffert. "Die Aufzeichnungen sind ja zum Teil im Schützengraben, im Lazarett geschrieben, mit Bleistift und mit allem, was er gerade hatte. Das Kriegstagebuch fängt an, als er von Frankreich nach Russland verlegt wird, an die Front. Er war auf der Krim, ist vier Mal verwundet worden, Lazarettaufenthalte, das übliche Schicksal, nach Köln zurück, und ist dann in der Nähe von Köln auch in Kriegsgefangenschaft geraten. Das ist so ein unmittelbares Erleben. Manchmal nur Stichworte: Hunger. Verzweiflung, Angst, wie er verwundet wird, wie ein Offizier, ein Freund neben ihm erschossen wird. Diese Tagebücher enden mit der Freilassung aus der Kriegsgefangenschaft auf der Hofgartenwiese in Bonn. Die ja später in der Friedensbewegung eine große Rolle spielte."

Der Kreis schließt sich, auch zu René Böll selbst. Mit dieser Publikation zu seinem 100. Geburtstag ist Heinrich Bölls Wahrnehmung in Deutschland zu dessen schriftstellerischen Anfängen zurückgekehrt. 32 Jahre nach Bölls Tod hat die Neubewertung des Autors begonnen.

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