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Politik

"Wir fürchten noch mehr harte Urteile"

Andreas Noll
17. Februar 2018

Die Freude ist groß nach der Freilassung des "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel. Aber auch die übrigen in der Türkei inhaftierten Journalisten bräuchten Unterstützung, fordert Anne Renzenbrink von Reporter ohne Grenzen.

Deniz Yücel frei - Autokorso in Hamburg
Bild: picture-alliance/dpa/B. Marks

Deutsche Welle: Frau Renzenbrink, welche Bedeutung hat die Freilassung von Deniz Yücel für die noch inhaftierten Journalisten in der Türkei?

Anne Renzenbrink: Wir sind unglaublich froh, dass Deniz Yücel freigekommen ist. Er saß ja ein Jahr lang in Untersuchungshaft wegen absurder Anschuldigungen. Dass er jetzt frei ist, war eine längst überfällige Entscheidung, aber letztendlich war diese Freilassung genauso willkürlich wie seine Verhaftung. Denn es gibt in der Türkei immer noch sehr viele andere Journalistinnen und Journalisten, die wegen der gleichen Vorwürfe wie die gegen Deniz Yücel - also Terrorpropaganda - weiterhin in Haft sitzen. Und bei diesen Kollegen gibt es bislang keine Anzeichen dafür, dass sie irgendwann freikommen.

Trotz dieser willkürlichen Entscheidung hoffen wir natürlich, dass der Fall Yücel ein positives Signal senden könnte für die vielen anderen in der Türkei inhaftierten Journalistinnen und Journalisten.

In der Praxis allerdings gab es am Freitag ein anderes Urteil. In Istanbul wurden insgesamt sechs, davon drei sehr bekannte türkische Journalisten zu lebenslanger Haft verurteilt...

Wir sind schockiert über dieses Urteil, das ein sehr verheerendes Signal sendet für die türkischen Journalisten. Sie wurden ja verurteilt wegen einer angeblicher Beteiligung am Putschversuch im Juli 2016. Und wegen dieses Vorwurfs stehen noch zahlreiche andere Kollegen vor Gericht, und diese Prozesse werden auch in den kommenden Wochen weitergehen. Wir sind in ganz großer Sorge, dass es dann weitere ähnlich harte Urteile geben wird.

RoG-Sprecherin Anne RenzenbrinkBild: DW

Sind diese harten Urteile am Tag der Freilassung Yücels aus Ihrer Sicht ein politisches Signal?

Ob es da eine Verbindung gibt, kann ich nicht sagen. Der Prozess gegen die Journalisten lief ja schon recht lange und die Beobachter rechneten fast alle mit einem Urteil am Freitag.

Gehen Sie davon aus, dass diese Urteile endgültig sind oder gibt es da womöglich noch einen politischen Spielraum?

Wir befürchten, dass sie endgültig sind. Klar gibt es formal für die Verurteilten noch die Möglichkeit, in Berufung zu gehen. Aber da sehen wir leider ganz ganz geringe Chancen.

Es gibt zu dem Urteil "lebenslang" ja auch noch eine Ergänzung: lebenslang heißt in diesem Fall, dass es keine Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung gibt. Das heißt, die Journalisten, die sich in einem fortgeschrittenen Alter befinden, müssen wirklich lebenslang in Haft bleiben. Sie saßen ja auch schon fast anderthalb Jahre in Untersuchungshaft.

In diesem Zusammenhang muss man auch wissen, dass im Falle von Mehmet Altan ein Urteil des Verfassungsgerichts ignoriert wurde. Das muss man sich mal vorstellen: Das türkische Verfassungsgericht hat entschieden, dass die Untersuchungshaft für Mehmet Altan illegal ist, aber die unteren Instanzen haben eben dieses Urteil ignoriert und haben den Angeklagten nicht freigelassen. Und jetzt kommt es noch zu diesem verheerenden harten Urteil.

Kann die Bundesregierung aus Ihrer Sicht nach dem Engagement für Yücel auch noch in weiteren Fällen helfen?

Wir finden schon, dass die Bundesregierung auch bei der Forderung der Freilassungen von Journalistinnen und Journalisten konkreter werden sollte. Das gilt im Übrigen auch für die Europäische Union: Man sollte wirklich die Namen aller Journalistinnen und Journalisten, die in der Türkei inhaftiert sind, öffentlich in den Mund nehmen und ihre Freilassung öffentlich fordern - wie im Falle Yücels.

Es gibt heute mehr als einhundert Journalistinnen und Journalisten in türkischen Gefängnissen - zum Teil sitzen sie dort schon seit Jahren und warten immer noch auf eine Anklageschrift oder einen Prozesstermin. Diese Menschen haben keine internationale Unterstützung, keine internationale oder große Redaktion im Rücken, die sie unterstützt und vielleicht auch Öffentlichkeitsarbeit betreibt.

Der türkische Autor Mehmet AltanBild: picture alliance/AA/A. Izgi

Wie hat sich die Lage der Journalisten in der Türkei in den vergangenen Monaten entwickelt? 

Die Zahlen sprechen leider für sich: mehr als 100 Journalisten sind immer noch inhaftiert. Rund 150 Medien wurden geschlossen, hunderte Presseausweise wurden annulliert. Im redaktionellen Alltag hat bei kritisch berichtenden Kollegen die ständige Angst Einzug gehalten. In den meisten Redaktionen gibt es mehrere leere Tische, weil dort Kolleginnen oder Kollegen im Gefängnis sitzen.

Es gibt noch einige wirklich kritische unabhängigen Medien; dazu gehören auch Online-Plattformen, die aber kaum noch Werbung haben, weil die Unternehmen keine Anzeigen schalten - aus Angst vor Repressionen. Dadurch wächst der finanzielle Druck auf die wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien.

Aber, das ist uns ganz wichtig, wir wollen die Pressefreiheit in der Türkei noch nicht für tot erklären. Damit würden wir denjenigen einen Gefallen tun, die sich das wünschen - also die Regierung unter Präsident Erdoğan. Es gibt immer noch mutige Journalistinnen und Journalisten, die jeden Tag für die Pressefreiheit kämpfen und immer noch kritisch berichten. So ein bekanntes Beispiel ist natürlich die Zeitung Cumhuriyet, aber auch die Zeitung BirGün könnte man nennen und noch einige Online-Plattformen. Aber wir sehen ganz klar erhebliche Einschränkungen und mögliche Selbstzensur.

Anne Rezenbrink ist Pressesprecherin der NGO "Reporter ohne Grenzen", die sich gegen Zensur und die Verfolgung von Journalisten einsetzt.

Das Interview führte Andreas Noll.

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