Respektlos? Streit um den Oscar-Anwärter "Emilia Pérez"
28. Januar 2025
Ein berüchtigter Drogenboss, der abtaucht, um sich zur Frau umoperieren zu lassen, dann aber wiederkommt, um seine Familie zurückzugewinnen. Wer kommt auf so eine Geschichte? Der französische Regisseur Jacques Audiard. Er hat sie in ein Musical verpackt, mit einfühlsamen Liedern und artistischen Tanzeinlagen - Kino der ganz großen Gefühle. Hollywood ist begeistert: 13 Oscar-Nominierungen, zuvor schon vier Golden Globes, mehr Vorschuss-Lorbeer geht kaum. Aber es hagelt auch Kritik.
So angetan die Filmwelt von "Emilia Pérez" ist, so wenig Anklang findet der Streifen in Mexiko: Dreh an mexikanischen Originalschauplätzen? Einsatz mexikanischer Darsteller? Fehlanzeige! Audiard hat sein vielschichtiges Drama fernab von Mexiko in einem Studio bei Paris produziert. Vor der Kamera standen, mit Ausnahme von Adriana Paz, überwiegend nicht-mexikanische Schauspielerinen und Schauspieler: die spanische Transfrau Karla Sofía Gascón als Drogenbaron, in weiteren Hauptrollen die US-Schauspielerinnen Zoe Saldana und Selena Gomez.
Nutzt Emilia Pérez Mexikos Krise aus?
Der Film stecke voller "Stereotypen" und sei ein Zeugnis von "Ignoranz und mangelndem Respekt gegenüber Mexiko", kritisierte die mexikanische Journalistin Cecilia González. Auf der Plattform X schrieb sie, "Emilia Pérez" nutze "eine der schlimmsten humanitären Krisen der Welt" aus - das massenhafte Verschwinden von Menschen in Mexiko.
Der in Hollywood tätige mexikanische Kameramann Rodrigo Prieto kritisierte, in "Emilia Pérez" wirke alles "unauthentisch" - abgesehen von Adriana Paz. Die Mexikanerin, die in dem Film die Witwe eines Kartellopfers spielt, saß in einer Pressekonferenz, in der scharfe Kritik an Audiards Werk laut wurde. Sie reagierte, wie es wohl kaum jemand erwartet hatte: Paz enthüllte unter Tränen, sie sei selbst vor 15 Jahren Opfer einer Entführung geworden. Vor laufender Kamera erlitt die Schauspielerin einen Zusammenbruch.Seit Jahrzehnten kämpft Mexiko mit einer Serie grausamster Verbrechen: Am Rande des Drogenkrieges unter rivalisierenden Kartellen verschwinden täglich und systematisch Menschen, sie werden Opfer von Entführungen und außergerichtlichen Hinrichtungen. Bis August 2024 erfasste das "Nationale Register Verschwundener und Vermisster Personen" (RNPDNO) insgesamt 116.386 Vermisste, bis heute wurden 40 Täter gerichtlich verurteilt. "Häufig sind auch staatliche Stellen in die Verbrechen involviert", sagt auf DW-Anfrage Françoise Greve von der Deutschen Menschenrechtskoordination in Berlin, einem Netzwerk zahlreicher Menschenrechtsorganisationen und kirchlicher Hilfswerke. "Die wenigsten Fälle werden aufgeklärt."
Literatur und Film zur Gewalt in Mexiko
Nicht nur ist das spurlose Verschwinden von Menschen bitterer Alltag in Mexiko, es hat sich auch in das literarische Vermächtnis des lateinamerikanischen Landes eingebrannt: Der Journalist und Autor Antonio Ortuño etwa erzählt in seinem 2019 auch auf Deutsch erschienenen Roman "Die Verschwundenen" von einer Luxuswohnanlage, die ein mafiöser Bauunternehmer errichtet. Ortuño, Jahrgang 1976, rechnet literarisch mit seiner Heimatstadt Guadalajara ab, die beispielhaft für alles steht, was in Mexiko schiefläuft: Drogenhandel, Korruption, Wirtschaftskriminalität, Gewalt. Guadalajara ist Sitz eines mächtigen Drogenkartells.
Mit seinem Jahrhundertroman "2666" über eine unaufgeklärte Mordserie an Frauen in Mexiko hatte zuvor schon der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño (1953-2003) den massenhaften Tod ins Bewusstsein der lesenden Weltöffentlichkeit gerückt.
Was geschah mit Bus 670" (Originaltitel: Sin señas particulares) hieß ein Filmdrama von Fernanda Valadez, das 2020 beim Sundance Film Festival in den USA Premiere hatte. Die Geschichte: Eine mexikanische Mutter sucht verzweifelt nach ihrem verschwundenen Sohn.
Jacques Audiard: kein Dokumentarfilm über Situation in Mexiko
Mit "Emilia Pérez" ist nun ein weiterer Kinofilm erschienen, der das Thema aufgreift. "Frivol und irreführend" nennt das der mexikanische Schriftsteller Jorge Volpi und fragt: "Ein grausamer Kartellchef, der Hunderte von Morden auf dem Gewissen hat, verwandelt sich in eine einfühlsame Frau, die sich den Schwächsten verschreibt?" Volpi nannte das auf X ein unverzeihliches "narratives Jonglieren". Vielleicht werde "Emilia Pérez" Preise gewinnen, "aber auch die Verachtung der Opfer!"
Für Klarstellung sorgt indes der Autor und Regisseur von "Emilia Perez", Jacques Audiard. "Ich erzähle von sozialen und politischen Realitäten, aber ich wollte nie einen Dokumentarfilm über die Situation in Mexiko oder über die Transition einer Person machen", so Audiard in einem Interview der Tageszeitung "taz". "Ich nutze eine überhöhte Form, das Artifizielle des Musicals und Melodrams, um meine Geschichte emotional zu erzählen."
Tatsächlich ähnelt "Emilia Pérez" in Aufbau und Wirkung einer Oper: Immer, wenn der Film emotional wird, setzt Musik ein, beginnen die Akteure zu singen oder zu tanzen. "Hier sind die Songs integraler Bestandteil der Handlung, nicht nur schmückendes Beiwerk."
Ein Narrativ, das in Mexiko schmerzt
Die Geschichte seines Musical-Dramas verortet Audiard in Mexiko. Das Problem der Verschwundenen in Mexico wird dabei lediglich gestreift. So zeigt eine Filmszene Frauen ermordeter und verschwundener Männer, die das Lied "Para" singen. Eine solchen Chor der Witwen gebe es wirklich in Mexiko, so der Regisseur.
Aber auch die Geschlechtsumwandlung eines Menschen stehe nicht im Mittelpunkt. "Die eigentliche Frage ist doch: Bin ich legitimiert, über bestimmte Themen zu sprechen? Darf ich mich als weißer, heterosexueller Franzose Anfang 70 mit einer Transition (Geschlechtsumwandlung, Anm. d. Red.) auseinandersetzen? Mit dem Leid der Hinterbliebenen von Kartellverbrechen? Nun, ich denke, ich darf. Ich lebe in dieser Welt, ich lese und nehme wahr, mache mir Gedanken. Und warum sollte ich diese nicht formulieren und ausdrücken, ob nun gesprochen, gesungen oder sogar getanzt?"
Eines scheint Audiard, Jahrgang 1952, schon jetzt gelungen: "Ich wollte größere Dimensionen, den Blick weiten, ein breiteres Publikum erreichen." Natürlich berge das die Gefahr, zu vereinfachen. "Und natürlich hätte ich mir einen leichteren Stoff aussuchen können. Ich könnte mein Leben damit verbringen, alle heiklen Themen zu vermeiden."
Gerade die große Aufmerksamkeit für "Emilia Pérez" findet Françoise Greve von der Deutschen Menschenrechtskoordination in Berlin schwierig. Es sei "äußerst fragwürdig," einen Kartellboss, wie im Film suggeriert, als Menschenrechtsaktivisten darzustellen.
Doch bei aller Kritik, sagt Greve im DW-Gespräch, gelte die Kunstfreiheit. "Er kann einen Film machen, wie er das will." Man solle nur nicht außer Acht lassen, wie schmerzhaft und brisant das Thema in Mexiko sei. "Wenn man sich eines solchen Themas annimmt, sollte man sich auch der Verantwortung bis zu einem gewissen Grad stellen, welche Narrative dabei geschaffen werden und wie sie widerhallen."