Revolution für das deutsche Gesundheitssystem?
7. Juni 2024Um das deutsche Gesundheitssystem ist es nicht gut bestellt. Ineffizient sei es und pro Kopf gerechnet das teuerste in Europa, sagt Gesundheitsminister Karl Lauterbach von der SPD. Er wolle damit nicht Alarmismus schüren, sondern darauf hinweisen, dass eine "Zeitenwende" dringend nötig sei, so Lauterbach kürzlich bei einer Konferenz in Rostock.
Mit "Zeitenwende" spielt Lauterbach auf die militärische Zeitenwende an, die Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem vollständigen russischen Einmarsch in die Ukraine 2022 ausrief. Der Minister will für das Gesundheitswesen ähnliche große Umwälzungen wie für die Verteidigungspolitik.
Dazu hat Lauterbach umfassenden Reformpläne vorgelegt. Etwa 15 verschiedene Gesetzesentwürfe werden derzeit diskutiert. Sie sollen die größten Probleme lösen: Zu wenig Ärzte, zu viele leere Krankenhausbetten, zu großer finanzieller Druck auf die Krankenhäuser und schleppende Digitalisierung.
Das Urteil über Lauterbachs Ambitionen fällt bislang allerdings geteilt aus: Die meisten Ärzteverbände lobten Lauterbachs Vorhaben, die Krankenkassen warnen vor höheren Beiträgen. Dirk Heinrich, Hals-Nasen-Ohren-Arzt und Vorsitzender des Ärzteverbandes Virchowbund, sagt der DW, die Reformen beinhalteten "Licht und Schatten".
Eugen Brysch, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz, sieht mehr Schatten als Licht: "Ideen hat der Bundesgesundheitsminister viele. Doch es darf bezweifelt werden, ob die praxistauglich sind", meint Brysch im DW-Gespräch.
Neue Krankenhaus-Finanzierung
Einer der größten und umstrittensten Pläne Lauterbachs wurde Mitte Mai vom Kabinett Scholz gebilligt: eine Krankenhausreform, die der Minister als "Revolution" bezeichnet.
Die Ausgangslage: Deutschland hat die höchste Anzahl von Krankenhausbetten pro Kopf in der Europäischen Union (7,9 Betten pro 1000 Einwohner - EU-Durchschnitt: 5,3). Die Aufrechterhaltung dieser Betten ist teuer. Lauterbach zufolge hat dies dazu geführt, dass viele Krankenhäuser am Rande des Bankrotts stehen. Die Folge ist, dass Patienten unnötigerweise im Krankenhaus bleiben, damit diese den Krankenkassen mehr Geld in Rechnung stellen können. Das treibt wiederum die Gesundheitskosten und Versicherungsbeiträge in die Höhe.
Mit der Reform sollen die Krankenhäusern nicht mehr pro Behandlung bezahlt werden. Stattdessen sollen die Kliniken auch sogenannte Vorhaltepauschalen erhalten. Das bedeutet, dass die Krankenhäuser einen Großteil des Geldes dafür bekommen, dass sie Personal und Geräte vorhalten oder beispielsweise eine Notaufnahme betreiben.
Dadurch soll der finanzielle Druck gemindert werden, so viele Operationen und Behandlungen wie möglich durchzuführen, auch wenn ein Krankenhaus dafür nicht ausreichend qualifiziert ist.
Diese Maßnahme soll sicherstellen, dass Patienten, die komplexe Behandlungen benötigen, früher an Spezialisten überwiesen werden. Nach Ansicht des Gesundheitsministeriums werden dadurch langfristig die Gesundheitskosten gesenkt. Denn die Patienten hätten bessere Heilungschancen und würden seltener Opfer von Kunstfehlern werden, wenn das Krankenhauspersonal weniger gehetzt und überlastet sei. Lauterbach meint, dass diese Reform Zehntausende von Menschenleben pro Jahr retten könnte.
Zweitens zielt die Reform darauf ab, die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern. Deutschland hat zwar die höchsten Ausgaben pro Kopf für Krankenhäuser in Europa - das bedeutet jedoch nicht, dass die Versorgung die beste ist. Daher soll zukünftig nicht mehr jede Behandlung in jeder Klinik möglich sein. Es werden strengere Vorgaben eingeführt, beispielsweise hinsichtlich der Anzahl an Fachärzten. Kliniken, die diese Vorgaben nicht erfüllen, erhalten kein Geld mehr für bestimmte Eingriffe.
Zu wenig Ärzte auf dem Land
"Eine Krankenhausreform ist natürlich richtig und auch wichtig", sagt Dirk Heinrich vom Virchowbund. "Wir haben letztlich zu viele stationäre Behandlungen. Aber das, was jetzt passiert, ist viel zu wenig." Er fordert, dass mehr Behandlungen ambulant durchgeführt werden können, also ohne, dass Patienten im Krankenhaus bleiben müssen. Zudem müsse der Notdienst reformiert werden.
Auch Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz zeigt sich skeptisch. "In der ambulanten medizinischen Versorgung finden betagte, chronisch kranke und pflegebedürftige Menschen kaum noch einen neuen Hausarzt", sagt er.
Deutschland kämpft mit einem Mangel an Arztpraxen in ländlichen Gebieten, da sich dort weniger Ärzte niederlassen wollen. Das Gesundheitsministerium will dieses Problem angehen, indem es den Kliniken in ländlichen Gebieten zusätzliches Geld bietet.
Auch hier ist Brysch vorsichtig: "Dass nun bessere Verdienstmöglichkeiten geschaffen werden, wird alleine nicht zu mehr Ärzten in ländlichen Regionen führen. Schließlich spielen auch noch weitere Standortfaktoren eine Rolle."
Ein Problem wurde mit der neuen Reform gelöst: Die Deckelung der Honorare für Hausärzte. Die Ärzte haben sich seit langem über diese Budgetgrenze beschwert - und gelegentlich auch gestreikt -, weil sie oft gezwungen gewesen seien, Patienten unentgeltlich zu behandeln. Lauterbach hofft, dass die Abschaffung der Obergrenze den Ärzten neue Anreize bieten wird. Heinrich begrüßt diesen Schritt, sagt aber auch hier, Lauterbach gehe nicht weit genug. "Es bleibt halt auf halbem Wege, weil die Fachärzte nicht entbudgetiert werden. Es nutzt ja dem Patienten nichts, wenn er beim Hausarzt vielleicht besser einen Termin kriegt, und dann monatelang auf dem Facharzttermin wartet."
Eine Vielzahl kleinerer Reformen
Einige kleinere Reformpläne sind weniger umstritten: Lauterbach will, dass jeder Patient eine einzige digitale Krankenakte erhält. In dieser sollen Behandlungen und Testergebnisse aller Ärzte, die er aufgesucht hat, verzeichnet sein.
Außerdem sollen die Wartezeiten in den Arztpraxen verkürzt werden, indem Ärzte Konsultationen online oder per Telefon durchführen und chronisch Kranken Medikamente für ein ganzes Jahr verschreiben können. Bislang müssen solche Patienten alle drei Monate zum Arzt gehen, um ihre Rezepte erneuern zu lassen.
Bereits online ist der neue Klinik-Atlas. Er ermöglicht es den Patienten, Krankenhäuser zu vergleichen - anhand einer Übersicht über Behandlungsmöglichkeiten, Personalausstattung, Fallzahlen und der Zahl der Komplikationen. Doch auch dieser Vorstoß des Gesundheitsministers wird kritisiert. Politiker von Oppositionsparteien forderten bereits, das Vergleichsportal sofort vom Netz zu nehmen, da es Patienten falsch informiere. Das Gesundheitsministerium hat nun angekündigt, den Atlas angesichts anhaltender Kritik fortlaufend zu aktualisieren.
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.