Mehr als eine Image-Kampagne? Saudi-Arabien schafft die Todesstrafe für Minderjährige und Auspeitschen als Strafe ab. Damit will Kronprinz Mohammed bin Salman das Land an internationale Standards heranzuführen.
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Seit drei Jahrzehnten stehen die Reformbestrebungen Saudi-Arabiens unter einem einzigen Leitsatz: "Wir Saudis wollen modernisieren, aber nicht unbedingt verwestlichen." So fasste es der Politiker und ehemalige saudische Botschafter in den USA, Bandar bin Sultan al-Saud, Anfang der 1990er Jahre zusammen.
Dieser Grundsatz ebnete den Weg für die wirtschaftlichen, politischen und juristischen Reformen des Königreichs. Dazu zählen auch die jüngsten Entscheidungen der Regierung, das Auspeitschen als Bestrafungsform abzuschaffen und die Hinrichtung von Angeklagten zu verbieten, die zum Zeitpunkt der Tat unter 18 Jahren waren.
Die Gesetzesänderungen unter König Salman ibn Abd al-Aziz sind Teil eines größeren Modernisierungsprojekts, das mit Salmans Vorgänger begann. Im Jahr 2007 kündigte der damalige König Abdullah eine Reihe von Justizreformen an. Sie sollten helfen, die Verschränkungen von Judikative und Exekutive zu entflechten. König Salman, der 2015 an die Macht kam, setzte das Reformprojekt fort.
"Wir sprechen hier von 13 Jahren schrittweiser, langsamer Rechtsreformen", sagt Bader al-Saif. Er arbeitet als Wissenschaftler für das Carnegie Middle East Center in Beirut und ist Professor für Geschichte an der Universität Kuwait.
"Saudi-Arabien gründet auf der Idee, den Monotheismus zu bewahren und Gottes Gesetz aufrechtzuerhalten", sagt Bader al-Saif. "Allerdings blieb dem politischen Establishment immer eine Möglichkeit erhalten, in religiöse Angelegenheiten einzugreifen." Dies liege an der Gründungsgeschichte Saudi-Arabiens.
Die Ursprünge des saudischen Staates gehen auf ein Abkommen aus dem 18. Jahrhundert zurück. Damals sicherte ein Vertrag das empfindliche Machtgleichgewicht zwischen der Saud-Dynastie und religiösen Funktionären des Wahhabismus, einer besonders traditionellen Auslegung des Islam.
"Was wir bei König Salman und seinem Sohn, Kronprinz Mohammed bin Salman, sehen, ist eine Umkehrung dieser Situation. Sie versuchen, Saudi-Arabien näher an internationale Standards heranzuführen", so al-Saif. "Die Strafrechtsreformen passen zu Saudi-Arabiens Ziel, sich der Welt zu öffnen, so wie es das Projekt 'Vision 2030' vorsieht", sagt al-Saif.
Hinter "Vision 2030" steckt das Vorhaben des Kronprinzen Mohammed bin Salman, das konservative Land zu reformieren und wirtschaftlich breiter aufzustellen. "Dazu gehört auch das längerfristige Vorhaben Riads, das Image Saudi-Arabiens aufzupolieren", erklärte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik gegenüber der DW.
Nach Meinung von Menschenrechtsaktivisten sind die jüngsten Justizreformen bei weitem nicht ausreichend. Einige begrüßen zwar die Fortschritte, denn die brutalen Strafmaßnahmen in Saudi-Arabien werden seit langem heftig kritisiert. Doch andere fürchten, dass die Gesetzesänderungen Raum für Schlupflöcher offenlassen.
So sagte der im Exil lebende saudische Anwalt Taha al-Haji der DW, dass der königliche Erlass, der die Hinrichtung von Minderjährigen verbietet, nicht für verurteilte Terroristen gelten soll. Deshalb könnte die Todesstrafe immer noch gegen Minderjährige verhängt werden, die wegen politischer Straftaten angeklagt sind, sagte al-Haji. "In Saudi-Arabien ist Terrorismus ein sehr weit gefasster Begriff. Der Staat kann jeden Akteur, der sich seinen Entscheidungen widersetzt oder sie kritisiert, als Terroristen verfolgen", erklärt der Anwalt.
Die jüngsten Reformen treffen also im Kern die Forderungen, die Menschenrechtsorganisationen schon lange stellen - nämlich das Ende der grausamen Bestrafungsmethoden. Ob sie in der Praxis tatsächlich das Ende von Auspeitschungen und der Todesstrafe für Minderjährige bedeuten, bleibt weiter fraglich.
Saudi Arabien: Gnadenlos beim Umgang mit Kritikern
Saudi-Arabien hat die Welt mit einer Reform seines Strafrechts überrascht. Das Auspeitschen und die Todesstrafen für Minderjährige wurden abgeschafft. Doch für viele inhaftierte Aktivisten bedeutet das keine Entwarnung.
Bild: Getty Images/M. Ingram
Keine Todesstrafe mehr für Minderjährige
In einem ersten Schritt wurde das Auspeitschen in Saudi-Arabien abgeschafft und nur wenige Stunden später auch die Todesstrafe für Minderjährige. Eine Tat, die vor dem vollendeten achtzehnten Lebensjahr begangen wurde, darf per königlichem Dekret fortan mit maximal zehn Jahren Haft bestraft werden. Das Dekret helfe, ein moderneres Strafgesetz zu schaffen, hieß es.
Bild: picture-alliance/AP Photo/A. Nabil
Schlechtes Image seit Ermordung Khashoggis
Menschenrechtler und Experten blicken entsprechend zurückhaltend auf die Neuerungen. Sie seien zwar richtig, aber nicht mit einer Liberalisierung des Landes zu verwechseln, so Guido Steinberg von der SWP-Berlin: "Das ist ein Versuch, die eigene Reputation aufzupolieren." Das Image von Kronprinz Mohammed bin Salman (MbS) sei immer noch durch den Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi ramponiert.
Bild: picture-alliance/AP Photo/L. Pitarakis
PR, um sich im Westen beliebt zu machen
Saudi-Arabien sei besonders um seine Reputation in den USA und in der westlichen Welt besorgt, sagt Steinberg. Doch der Kronprinz fahre weiterhin einen sehr autoritären Kurs. Die Reformen, die MbS seit Amtsantritt durchgesetzt hat, gehen einher mit brutaler Repression, die alles erstickt, was seine Herrschaft in Frage stellt. Und treffen kann es jeden. Auch die eigene Familie.
Bild: Reuters/Courtesy of Saudi Royal Court/B. Algaloud
Die eigene Familie im Knast
Auch vor ranghohen Mitgliedern der Königsfamilie macht MbS nicht halt. Ende März gab es neue Festnahmen, unter ihnen war der ehemalige Kronprinz Mohammad Bin Najef (links), ein Neffe von König Salman und Cousin von Mohammad Bin Salman. Der Vorwurf: Verrat und angebliche Vorbereitung eines Putsches. MbS habe deutlich machen wollen, dass politischer Widerstand nicht geduldet werde, so Steinberg.
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Mutaib bin Abdullah
MbS hat auch potenzielle Konkurrenten innerhalb der Familie beseitigt. Führende Prinzen wurden inhaftiert. Neben Mohammed bin Najef gehört dazu auch Mutaib bin Abdullah, Chef der Nationalgarde. "Es geht MbS darum, in der Familie klar zu machen, dass es einen neuen Herrscher im Land gibt - und dass ihre Privilegien dabei zwar weiter gelten können, aber Widerstand nicht geduldet wird", so Steinberg.
Bild: picture-alliance/dpa/M. Yalcin
Prinzessin meldet sich aus dem Gefängnis
Prinzessin Basmah bin Saud kämpfte für Menschenrechte in ihrem Land und prangerte die Unterdrückung der Frauen an. 2019 verschwand sie spurlos, erst kürzlich meldete sie sich - mit einem Hilferuf. Die seit einem Jahr inhaftierte Prinzessin bittet in einem Brief um ihre Freilassung. Sie werde im Hochsicherheitsgefängnis Al-Hair "willkürlich" und ohne Anklage festgehalten, schrieb die 56-Jährige.
Bild: Getty Images/M. Ingram
Loujain al-Hathloul
Auch Loujain al-Hathloul machte sich für Frauenrechte stark - bis sie vor zwei Jahren wegen des Vorwurfs der Verschwörung ins Gefängnis kam. Sie werde gefoltert und sexuell belästigt, so ihre Schwester Lina. Sie sei seit Monaten in Isolationshaft. Nach Angaben der Familie soll Loujain ein Deal angeboten worden sein: Sie komme auf freien Fuß, wenn sie bestätige, dass es keine Folter gegeben habe.
Beobachter vermuten, der Schritt zur Änderung des Strafgesetzes sei jetzt erfolgt, um vom Gefängnistod des Bürgerrechtlers, Abdullah Al-Hamid (links), abzulenken. Er war vor wenigen Tagen in Haft an einem Schlaganfall gestorben und soll zuvor nicht ausreichend medizinisch versorgt worden sein. Die Menschenrechtler Walid Abu al-Chair und Mohammed Fahad al-Kahtani (r.) sind noch in Haft.
Bild: picture-alliance/dpa/right livelihood award
Raif Badawi noch in Haft
Einer der wohl bekanntesten Inhaftierten ist Raif Badawi. Der Blogger wurde 2013 wegen "Beleidigung des Islam" zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verhaftet. Einmal wurde er sogar öffentlich ausgepeitscht, weltweit wuchs die Empörung. Diese Reaktion dürfte dazu beigetragen haben, dass das Auspeitschen abgeschafft wurde. "Doch das bedeute nicht, dass er jetzt frei kommt", sagt Steinberg.
Auch Raif Badawis Schwester Samar sitzt seit 2018 in Haft - und mit ihr Nassima al-Sada. Beide sind bekannte Menschenrechtsverteidigerinnen. 2018 wurde eine Reihe von Aktivistinnen festgenommen, einige von ihnen, wie Amal al-Harbi, Maysaa al-Mane wurde zwar freigelassen. Doch ihre Verfahren laufen noch - so wie die von Nassima und Samar, die beide weiter im Gefängnis bleiben müssen.
Bild: picture-alliance/dpa/A. Wiklund
Prediger Salman al-Ouda
Salman al-Ouda gilt als gemäßigt-salafistischer Religionsgelehrter aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft - und gehört schon lange zu den einflussreichsten muslimischen Persönlichkeiten. 2017 wurde er erneut verurteilt. Er ist bekannt für seine Kritik am außen- und innenpolitischen Kurs der saudischen Führung. Er wurde zum Tode verurteilt, doch bisher wurde das Urteil nicht vollstreckt.
Bild: Creative Commons
Als 17-Jähriger in Haft
Mit Abschaffung der Todesstrafe für Minderjährige richten sich die Blicke auf Ali Mohammad al-Nimr. Er war 2012 im Alter von 17 Jahren festgesetzt worden, weil er für Reformen und die Freilassung politischer Gefangener protestiert hatte. Sein Onkel Nimr al Nimr war ein schiitischen Prediger. Nahost-Experte Steinberg geht davon aus, dass Ali nicht hingerichtet wird, aber in Haft bleibt.