Familienstreit: Richard Gere in "The Dinner"
10. Februar 2017Manchmal kommen sich Film und Leben sehr nah, besonders bei einem Filmfestival. Richard Gere spielt in dem einzigen US-amerikanischen Wettbewerbsbeitrag "The Dinner" Stan, einen Politiker, der sich um ein Gouverneursamt in seiner Heimat bewirbt. Sein Bruder Paul ist ein einfacher Geschichtslehrer. Stets hat er im Schatten des charismatischen und auch pragmatisch veranlagten Stan gestanden. Auch von seinen Eltern fühlte Paul sich immer weniger geliebt. Wiewohl Paul eigentlich der klügere der beiden ist, auf jeden Fall die reflektiertere Person.
Steve Coogan drückt "The Dinner" seinen schauspielerischen Stempel auf
Paul wird in "The Dinner" von Steven Coogan gespielt. Er ist einer jener Schauspieler aus der zweiten Riege Hollywoods, die man als Zuschauer aus vielen Filmen kennt. Aber er ist eben kein Superstar wie Richard Gere. Dennoch ist "The Dinner" vor allem ein Film, den der Schauspieler Steven Coogan dominiert. Gere nimmt die meiste Zeit nur eine Nebenrolle ein. Und trotzdem richten sich bei der Berlinale alle Augen auf ihn und Coogan steht, genau wie im Film, im Schatten.
Scharfe Kritik an Donald Trump
Bei der Vorstellung des Films in Berlin ließ es sich Richard Gere nicht nehmen, US-Präsident Donald Trump zu kritisieren: "Das Schlimmste, was Trump gemacht hat, war, dass er zwei Wörter zu einem verschmolzen hat - Flüchtling und Terrorist." Früher seien Flüchtlinge in den USA Menschen gewesen, denen man habe helfen wollen. Heute hätten viele Leute Angst vor ihnen. Gere: "Das ist das größte Verbrechen, diese beiden Begriffe zu einem zu machen." Seit dem Amtsantritt von Trump sei die Zahl der aus Hass begangenen Gewalttaten in den USA gestiegen, so Gere. "Hass erzeugt Angst. Und Angst bringt uns dazu, wirklich schreckliche Dinge zu tun", sagte der Hollywood-Star der Presse.
Schon am Donnerstag war Gere in Sachen Politik unterwegs und traf sich zu einem Gespräch über die Lage Tibets mit Angela Merkel im Kanzleramt. Ob Merkel Geres Filmpartner Steven Coogan ein Begriff ist, ist nicht bekannt. Aber Coogan wird es verschmerzen. Schließlich liefert er und nicht Gere in Oren Movermans Film "The Dinner" eine schauspielerische Bravourleistung ab.
Dunkle Familiengeheimnisse
Zu Stan und Paul gesellen sich in "The Dinner" noch die beiden Ehefrauen Claire und Barbara. Die vier treffen sich in einem extravagant edlen und überaus teuren Restaurant, obwohl die beiden Brüder sich eigentlich kaum noch etwas zu sagen haben. Doch Stan will etwas klären, ein Familiengeheimnis, in das einzig Paul bisher nicht eingeweiht ist. Die Söhne der beiden haben etwas Schreckliches getan: Nach einer durchzechten Nacht haben sie eine obdachlose Frau zunächst aus Übermut geärgert, sie später angezündet. Die Frau stirbt.
Die Lohmans, so der Familienname der Brüder, haben also ein Problem. Wie umgehen mit der Schmach der Kinder? Vor allem vor dem Hintergrund, dass Stans politische Karriere jäh beendet wäre, sollte das Verbrechen an die Öffentlichkeit kommen. Bei Oren Movermans "The Dinner" handelt es sich um die Verfilmung des Bestsellers "Angerichtet" des niederländischen Erfolgsautors Herman Koch. Moverman hat die Szenerie aus der Amsterdamer Oberschicht in das Milieu Liberaler Nordamerikaner gehoben.
Blick in komplexe Familienstrukturen
Was Anfangs nach einer klaren Rollenverteilung aussieht, weicht sich im Laufe der mit vielen Rückblenden gespickten Handlung langsam auf. Stan ist nicht so, wie er zunächst erscheint, Paul ebenso wenig und die Frauen schon gar nicht. Das ist die Stärke des Films von Oren Moverman: Dass er nach und nach immer tiefer in die Vergangenheit und Psyche der Protagonisten vordringt und dort Schichten freilegt, mit denen der Zuschauer am Anfang nicht gerechnet hat. Moverman hat aus einem literarischen Blick hinter die Kulissen der niederländischen Bourgeoisie eine tiefe, filmische Bohrung in die Bewusstseinssphären der amerikanischen Upper-Class gemacht.
Anklänge an einen amerikanischen Theater-Klassiker
Dass die Brüder Lohman heißen, ist natürlich kein Zufall, die Anklänge an die berühmte Familie Loman aus Arthur Millers Familiendrama "Tod eines Handlungsreisenden" sind naheliegend: Aus vielen Dialogen, aus großen und kleinen Streitigkeiten, entwickeln Moverman und seine Schauspieler das komplexe und immer komplizierter werdende Bild einer Familie, die nur an der Oberfläche Ruhe und Harmonie ausstrahlt.
"Das Leben ist kompliziert" ist eine banale wie wahre Folgerung, die man aus "The Dinner" mitnehmen könnte. Und die trifft mindestens ebenso auf den zweiten Wettbewerbsbeitrag dieses Berlinale-Tages zu: Der ungarische Film "On Body and Soul" ist noch ein paar Spiralwindungen verwirrender und komplexer als sein amerikanischer Mitkonkurrent um die Bären. In einem großen Schlachthaus in Budapest hat Regisseurin Ildikó Enyedi ihren Film angesiedelt und lässt dort die Konflikte aufeinanderprallen.
Wettbewerb: Rätselhaftes aus Ungarn
In den Mittelpunkt stellt Enyedi die Beziehung zwischen einem der Fabrik-Direktoren und einer neuen Angestellten. Die ist für die Qualitätssicherung zuständig, verfügt offenbar über ein minutiöses Detailgedächtnis, entpuppt sich im Umgang mit anderen Menschen aber als autistisch. Beide sind durch das seltsame Phänomen verbunden, jede Nacht den exakt gleichen Träumen nachzuhängen: In in einem tief verschneiten winterlichen Wald laufen sie als Hirschpaar durch die Landschaft.
Das mag surreal und verwirrend klingen, und so entwickelt auch dieser Film ein kaum auf den ersten Blick zu entschlüsselndes Handlungskonstrukt. "On Body and Soul" ist verzwickte Gesellschaftsanalyse aus dem Ungarn von Heute ebenso wie ein vielfach verschlüsselter Kunstfilm mit überraschenden Wendungen.
Danny Boyles "Trainspotting"-Fortsetzung wirkt konventionell
Geradezu traditionell, trotz aller filmischer Mätzchen, kommt dagegen "T2 Trainspotting" daher, der zwar auch im Wettbewerb gezeigt wird, dort aber außer Konkurrenz läuft, also keine Bären gewinnen kann. "T2" feierte bereits vor kurzem Europapremiere. Danny Boyles Fortsetzung seiner vor über 20 Jahren aufgenommenen Drogenfarce ist ebenso poppig und schnell inszeniert wie das Original von 1996. Das wirkt heute allerdings weniger revolutionär als damals. Und das ist das Problem. "Trainspottig" gilt heute als Kultfilm, die Erwartungen an die Fortschreibung eines solchen können eigentlich nur enttäuscht werden. Und so ist der ungarische Film "On Body and Soul", trotz seiner vielen Rätsel, eigentlich der bessere, weil faszinierendere filmische Drogentrip.