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Richard Wagner und das "deutsche Gefühl"

Elizabeth Grenier
10. April 2022

Entfremdung und Zugehörigkeit, Eros und Ekel: Diese vier Gefühle standen im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt der Versuche, Identität zu definieren. Der Komponist Richard Wagner nahm sie auf und machte sie "deutsch".

Porträt von Wilhelm Richard Wagner vor einem Notenblatt, 1813-1883.
Richard Wagners Einfluss als "Erfinder des Mythos der Moderne" erkundet eine neue AusstellungBild: Heinz-Dieter Falkenstein/imageBROKER

In unserer heutigen Gesellschaft, die Personen und Persönlichkeiten aufgrund eines unpassenden Kommentars oder einer Handlung schnell "cancelt", ist die anhaltende Popularität des deutschen Komponisten Richard Wagner Teil seiner Anziehungskraft, die er auf Gelehrte ausübt. Schließlich war er notorisch antisemitisch - seine Schriften über Juden wie auch seine Musik wurden später von Hitler und den Nazis vereinnahmt.

"Im Guten wie im Schlechten ist Wagner die einflussreichste Figur in der Musikgeschichte", schreibt Alex Ross in seinem Buch "Wagnerism: Arts and Politics in the Shadow of Music" (auf Deutsch bei Rowohlt unter dem Titel "Die Welt nach Wagner: Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne" erschienen). Das Buch ermöglicht einen tiefen Einblick in das vielseitige kulturelle Erbe des deutschen Komponisten.

"Erfinder des Mythos der Moderne"

Doch sein großer Einfluss entstand nicht erst posthum. Bereits zu Lebzeiten war es ihm gelungen, den Zeitgeist einzufangen. Er wurde zum "Erfinder des sogenannten Mythos der Moderne", sagt der in den USA geborene Musikhistoriker Michael P. Steinberg, Kurator einer neuen Ausstellung im Berliner Deutschen Historischen Museum (DHM): "Richard Wagner und das Deutsche Gefühl". 

Für Steinberg lässt der Titel der Ausstellung gleich zwei Interpretationen zu. Die erste lautet, Wagner habe seiner (deutschen) Hörerschaft beigebracht, mittels seiner musischen Werke zu "fühlen". Außerdem habe er sie gelehrt, wie man "deutsch fühle", indem er behauptete, dass "die einzige wahre Musik deutsch ist". 

Ein erotisch aufgeladener Zaubergarten ist dieses Bühnenbild zu Richard Wagners "Parsifal" (Paul von Joukowsky, Max Brückner, Gotthold Brückner, 1882)Bild: Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität

Steinberg weist auch darauf hin, dass die heutige Auseinandersetzung mit Wagner - sei es als Opernfan oder Historiker - bedeute, das kreative Genie des Komponisten anzuerkennen, gleichzeitig aber seine Ideologie zu hinterfragen und zu kritisieren. Vor diesem Hintergrund wählte der Kurator vier Gefühle aus, die in Wagners Werk und Leben zentral waren und die außerdem die politischen und gesellschaftlichen Themen seiner Zeit widerspiegelten.

Entfremdung führte zu Revolten

Das erste Gefühl, die "Entfremdung", bezieht sich auf eine Haltung, die der junge Komponist während seines dreijährigen Aufenthalts in Paris von 1839 bis 1842 einnahm. Dort entschied er sich, die Traditionen der französischen und italienischen Oper abzulehnen und sich auf die Entwicklung einer neuen deutschen Operntradition zu konzentrieren. Auch die europäische Gesellschaft der 1830er und 1840er Jahre drückte ihre Unzufriedenheit mit den vorherrschenden Machtstrukturen aus. Es war eine Zeit, die geprägt war von Aufruhr und Aufständen.

Auch wenn Wagners Musikdramen in einer mythischen und fernen Vergangenheit angesiedelt sind, weist die Ausstellung darauf hin, dass die vor 1848 entstandenen Werke "als Ausdruck der aktuellen revolutionären Hitzköpfigkeit verstanden werden können". Die Figuren in seinen Opern "Der fliegende Holländer" und "Lohengrin" etwa sind umherstreifende Außenseiter, die der gesellschaftlichen Engstirnigkeit zu entkommen hoffen. Ein anderes Ereignis, das zeigt, wie Wagners Handlungen mit dem gesellschaftlichen Puls der Zeit verschmolzen, war der Dresdner Maiaufstand von 1849. Die Teilnehmenden wollten die in der Gesellschaft vorherrschenden Verhältnisse verändern. 

Auch Künstler aus den Bereichen Musik und Theater beteiligten sich an der Herbeiführung des Wandels, darunter Wagner selbst. Um einer Verhaftung zu entgehen, floh er ins Exil in die Schweiz, wo er mehrere Essays schrieb, in denen er seine künstlerischen Ideale definierte. Zugleich schuf er viele musikalische Werke, die seinen internationalen Ruf begründen sollten. 

Wagner etablierte sich als "Marke" - auch, indem er mehrere Fotos von sich machen ließ, wie dieses von 1871Bild: bpk - Bildagentur

Zugehörigkeit - oder wie man deutsche Identität definiert

Das zweite von der Ausstellung unter die Lupe genommene Gefühl, die "Zugehörigkeit", geht auf Wagners Beitrag zur Definition einer deutschen nationalen Identität zurück. Nachdem der Wagner politisch auferlegte Bann im Jahr 1862 aufgehoben worden war, kehrte er nach Deutschland zurück und gewann die Unterstützung des bayerischen Königs Ludwig II., der sein Mäzen wurde. Nach den Einigungskriegen in den 1860er Jahren und der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde das Selbstverständnis der Nation zu einer zentralen Frage in Politik, Wissenschaft und Kunst.

Der Komponist sah sich eindeutig die Seele des Landes verkörpern - er schrieb in sein Tagebuch: "Ich bin das deutscheste Wesen, ich bin der deutsche Geist." Wagners Gründung der Bayreuther Festspiele im Jahr 1876 und sein Eröffnungswerk, der vierteilige "Ring des Nibelungen", brachte die Suche nach den angeblichen Ursprüngen deutscher Volksmärchen und Mythen zum Ausdruck, was die nationale Identität stärken sollte.

Tannhäuser im Venusberg (anonymer Künstler im Stil von Eugène Delacroix, Paris 1861)Bild: Tannhäuser im Venusberg

"Die Meistersinger von Nürnberg" zelebrieren "das Deutsche und Wahre" - besonders durch den Höhepunkt der Oper, als die Figur des Meistersängers, Hans Sachs, sogar vor Überfremdung warnt. Während Wagner in seinen Werken nie eine Figur explizit als jüdisch definierte, wird die Figur Beckmessers in diesem Werk von vielen Fachleuten immerhin als Verkörperung von Wagners stereotypen und rassistischen Ansichten über Juden angesehen. Das Werk wurde später zum Nazi-Soundtrack, beispielsweise durch die Feierlichkeiten zur Etablierung ihrer Herrschaft 1933 - was zum belasteten Erbe der "Meistersinger" beiträgt.

Eros, die Begierde nach Menschen und Objekten

In der Abteilung "Eros" geht die Ausstellung der Frage nach, inwiefern Begierde und Besitztümer zentrale Konzepte sowohl in Wagners Privatleben als auch in seinen Werken waren. Der Komponist hatte viele Liebesbeziehungen; er war aber auch als Dandy bekannt, der teure Kleidung und teure Möbel schätzte. Obwohl er oft verschuldet war, fand er Sponsoren, die ihn andauernd unterstützten. Wagner verankerte so das Bild eines abseits bürgerlicher Konventionen frei lebenden Künstlers.

Ein Hausschuh von Richard WagnerBild: Richard Wagner Museum, Luzern

Doch der Komponist war nicht der Einzige, der materiellen Komfort begehrte. Deutschlands Gründerzeit, eine Zeit der rasanten Industrialisierung in den 1850er und 1860er Jahren, beflügelte das entfachte Verlangen der Bevölkerung nach Luxus und Konsum. Die Idee des Verlangens, worauf sich "Eros" bezieht, treibt die Handlung vieler von Wagners Musikdramen an - von der Loreley in "Rheingold" bis zu seiner zum Scheitern verurteilten Geschichte über die Liebenden "Tristan und Isolde".

Ekel - oder der gesunde Körper als Metapher für Antisemitismus

Der "Ekel", der als viertes Gefühl von der Ausstellung untersucht wird, verweist auf die wissenschaftlichen Innovationen der Ära in Bezug auf das Wissen über den menschlichen Körper. Mit einem wachsenden Bewusstsein für Hygiene und Gesundheit wurden im 19. Jahrhundert Behandlungen wie etwa Wasserkuren immer beliebter in Deutschland. Wagner ging regelmäßig in entsprechende Bäder, um seine verschiedenen Krankheiten zu heilen. Dort fand er zugleich einen ruhigen Rückzugsort.

Richard Wagner im Kreis seiner Freunde und Anhänger (1864)Bild: Wagner-Sammlung im Thüringer Museum Eisenach

Dabei diente das Bild des reinen Körpers auch als Metapher für Antisemitismus - und Wagner wusste seine einflussreiche Stimme zu nutzen, um Judenhass zu verbreiten. Sein Aufsatz "Judentum und Musik" war nur eine von vielen seiner Schriften, in denen er den jüdischen Einfluss in Gesellschaft und Politik anprangerte. "Man kann den guten Wagner nicht von dem schlechten Wagner trennen“, sagt der Musikhistoriker Steinberg. Der Komponist verkörpert und spiegelt die höchsten Errungenschaften Deutschlands sowie die beunruhigendsten Aspekte deutscher Identität wider. Deshalb kann man noch mehr von ihm lernen, wenn man sich die umstrittene Person genauer ansieht - anstatt sie einfach zu "canceln".

"Richard Wagner und das Deutsche Gefühl" ist vom 8.4. bis 11.9.2022 im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin zu sehen. 

Adaption aus dem Englischen: Verena Greb

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