Risiken für Stabilität und Wirtschaftskraft
27. Mai 2019Wirtschaftlich haben die Europäer derzeit einigen Grund zur Sorge. Da sind die ständigen Drohungen des US-Präsidenten mit Sonderzöllen, da ist der andauernde Handelskonflikt zwischen den USA und China, da ist der Brexit mit all seinen Unwägbarkeiten. Und die Folgen der Schulden- und Finanzkrise lasten noch immer wie Schatten auf der Europäischen Währungsunion.
Die Zugewinne von Populisten in einigen Ländern und die zunehmende Polarisierung in der EU dürften es nach Ansicht von Gabriel Felbermayr, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft Kiel, erschweren, "einen konstruktiven Weg nach vorne zu finden". Vor allem die Ergebnisse in Frankreich und Italien seien in dieser Hinsicht beunruhigend. "Damit wird es auch schwieriger, den Binnenmarkt zu vollenden und Handelsabkommen mit anderen Ländern und Regionen zu schließen. Die Risiken für die Stabilität innerhalb der EU und für ihre Wirtschaftskraft nehmen mit dem Wahlergebnis zu."
Ähnlich sieht das Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. "Der Ausgang der Europawahlen dürfte die Lösung europäischer Probleme nicht wirklich leichter machen." Das Ergebnis sei "kein Schock", sondern die Fortschreibung bekannter, problematischer Trends. "Es wird in der EU noch schwieriger, Mehrheiten zu finden. Das belastet die Handelsgespräche mit den USA, die am Ende wohl Autozölle verhängen werden." Das gute Abschneiden der italienischen Lega werde nach Amsicht Krämers den Haushaltskonflikt mit der EU verschärfen. "Trotzdem reagiert der Devisenmarkt moderat erleichtert, weil die Gewinne der EU-Gegner geringer ausfielen als befürchtet."
Kevin Körner, Europaexperte bei Deutsche Bank Research, sieht trotz der Zunahme der Euroskeptiker im Europäischen Parlament die deutlich höhere Wahlbeteiligung als "erfreulich gestiegenes Interesse der Wähler an der Europäischen Union". Die schwierigen Mehrheitsverhältnisse würden aber die nächsten Wochen bestimmen: Langwierige Auseinandersetzungen zwischen Europäischem Rat und Europäischem Parlament sowie intensive Verhandlungen über die Top-Jobs zwischen den Staats- und Regierungschefs könnten die Ernennung der nächsten Kommission über den Oktober hinaus verzögern. "Das würde ein schlechtes Bild auf die Fähigkeit der EU werfen, konstruktiv politische Entscheidungen zu treffen. Dies könnte sich auch auf das Vertrauen der Finanzmärkte in die gemeinsame Währung auswirken."
Weniger Wachstum 2019
In der zweiten Jahreshälfte 2018 war die Wirtschaftskraft der Europäer kaum noch gewachsen. Deutschland, die größte Volkswirtschaft des Kontinents, war nur knapp an einer Rezession vorbeigeschrammt. Wenige Tage vor der Europawahl konnte das Statistikamt Eurostat zumindest etwas Entwarnung geben. In den ersten drei Monaten des Jahres hat die Wirtschaft wieder etwas Schwung bekommen; in der EU ist sie um 0,5 Prozent gewachsen, in Deutschland um 0,4 Prozent.
Das sei aber "kein Grund zur Entwarnung", sagte der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier ungewohnt vorsichtig. Ähnlich sieht das die EU-Kommission in Brüssel. Ihre im Mai veröffentlichte Konjunkturprognose erwartet für das laufende Jahr ein deutlich schwächeres Wachstum in Europa.
Die gedämpften Erwartungen in Europa spiegeln die Prognosen für Wachstum und Handel weltweit wider, wie sie der Internationale Währungsfonds und andere Institutionen veröffentlicht haben. Wenn es der Weltwirtschaft nicht gut geht, leiden auch die Europäer, so das Argument. Die EU und insbesondere die Eurozone sind "hochgradig abhängig von externer Nachfrage", heißt es im Bericht der Kommission.
Die Stimmung sinkt weiter, wenn dann noch hausgemachte Probleme hinzukommen. "Dazu gehören Umbrüche in der Autoindustrie, soziale Spannungen, politische Unsicherheit und Verunsicherung durch den Brexit", so die Kommission.
Entsprechend sehen die Prognosen aus: Deutschland, besonders exportabhängig und mit schwächelnder Autobranche: 0,5 Prozent. Italien mit politischer Unsicherheit, regiert von linken und rechten Populisten: 0,1 Prozent. Vergleichsweise gut läuft es dagegen in Frankreich, obwohl dort noch immer die Gelbwesten demonstrieren: 1,3 Prozent.
Ausgerechnet Polen und Ungarn
Das mit Abstand größte Wachstum (4,2 Prozent) erzielt Polen - ausgerechnet jenes Land also, gegen dessen Regierung ein Disziplinarverfahren läuft, weil sie nach Ansicht der EU-Kommission gegen demokratische Grundprinzipien verstößt. Auch Ungarn, dessen Regierungschef Victor Orban ebenfalls vorgeworfen wird, die Demokratie zu gefährden, steht mit einer Wachstumsprognose von 3,7 Prozent überdurchschnittlich gut da. Mit solchen Zahlen ließ sich zur Europawahl gut Wahlkampf machen.
Als positiv vermerkt die EU-Kommission die stabile Binnennachfrage in den meisten Ländern. Sie betont dabei, dass dies nicht nur an steigenden Löhnen und stabilen Arbeitsmarktdaten liege, sondern - im Fall von Polen, Ungarn und anderen EU-Staaten östlich der Mitte - auch am stetigen Fluss der Fördermilliarden aus Brüssel.
In Deutschland, den Niederlanden, aber auch in Polen und Ungarn liegt die Arbeitslosigkeit besonders niedrig. Problematisch bleibt die Lage vor allem am südlichen Rand der EU, also vor allem in Griechenland, Italien und Spanien.
Die EU-Kommission erwartet für das laufende Jahr eine Arbeitslosenquote von 7,7 Prozent in der Eurozone und von 6,5 Prozent in der EU inklusive Großbritannien. Auch 2020 werde sich die Lage am Arbeitsmarkt weiter verbessern, wenn auch langsamer als vorher, bis sie schließlich mit 7,3 Prozent "ein Niveau erreicht, dass niedriger ist als vor der Finanzkrise", so die Kommission.
Es bleibt heikel - auch nach der Wahl
Letztlich muss aber auch die EU-Kommission eingestehen, dass die Liste der Risiken sehr lang ist. Handelskonflikte, Strafzölle, eine schwächere Weltwirtschaft, ein harter Brexit, selbst ein Aufflammen der Probleme im Bankensektor und bei Staatsanleihen ist nicht auszuschließen.
Angesichts all der Risiken wundert es dann kaum noch, dass auch der Ausgang der Europawahlen selbst zum wirtschaftlichen Unsicherheitsfaktor werden könnte. Sollten Regierungen nach den Wahlen "eine nicht-nachhaltige Politik" einschlagen oder es zu politischer Unsicherheit kommen, so der Bericht der Kommission, "dann besteht das Risiko, dass private Investoren ihr Geld abziehen".