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Risiko für Atomkrieg steigt durch neues Wettrüsten

Helen Whittle
16. Juni 2025

Die Mechanismen zur Rüstungskontrolle sind geschwächt, gleichzeitig beginnt ein neues atomares Wettrüsten, so die Erkenntnisse des SIPRI-Jahresberichts. KI und Weltraumtechnologien verschärfen die Risiken zusätzlich.

USA | Ein Atompilz steigt vor den bergen der Wüste von Nevada auf, im Vordergrund ist ein Geschütz zu sehen (23.05.1953)
Explosion einer Atombombe (bei einem US-Test 1953 in Nevada)Bild: Consolidated National Archives/dpa/picture-alliance

Neun Länder weltweit verfügen über Atomwaffen. Fast alle von ihnen haben 2024 intensiv in die Modernisierung ihrer Atomwaffen investiert, bestehende Waffensysteme nachgerüstet und neuere Versionen hinzugefügt. Dies ist eine der wichtigsten Erkenntnisse des SIPRI-Jahrbuchs 2025, der jährlichen Bestandsaufnahme zu Rüstung, Abrüstung und internationaler Sicherheit des Stockholm International Peace Research Institut (SIPRI).

Mitte der Achtzigerjahre gab es weltweit etwa 64.000 atomare Sprengköpfe, Bomben und Granaten. Heute wird diese Zahl auf 12.241 geschätzt. Doch der Trend der atomaren Abrüstung scheine sich umzukehren, so SIPRI-Direktor Dan Smith.

"Am besorgniserregendsten mit Blick auf die Atomwaffenlager ist, dass wir nach einer langen Zeit der Reduzierung erste Anzeichen dafür sehen, dass sich diese Entwicklung dreht. Die langfristige atomare Abrüstung geht zu Ende", sagte Smith der DW.

Ende der atomaren Abrüstung nach dem Kalten Krieg

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 und dem Ende des Kalten Krieges wurden mehr ausgemusterte atomare Sprengköpfe demontiert, als neue Sprengköpfe eingesetzt wurden. Zwar sei es üblich, dass Atomwaffenstaaten ihre nuklearen Fähigkeiten modernisieren, doch dieser Prozess habe sich seit Mitte der zweiten Amtszeit von US-Präsident Barack Obama beschleunigt, so der SIPRI-Direktor. Dabei sei verstärkt in neue Generationen von Raketen und Flugzeugträgern investiert worden.

"Schon einige Jahre zuvor hatte sich der Himmel über der Sicherheitslage weltweit verdunkelt", sagt Smith. "Die Atomwaffenstaaten hatten begonnen, eine intensive Modernisierung einzuleiten. Es gab nicht nur einige Anpassungen hier oder da, sondern es wurden ernsthafte militärische Veränderungen vorgenommen."

Die SIPRI-Forschenden gehen davon aus, dass sich von den aktuell geschätzt 12.241 existierenden atomaren Sprengköpfen 9614 in militärischen Lagerbeständen befinden. Das heißt, sie sind entweder auf Raketen montiert, befinden sich in Militärstützpunkten mit einsatzbereiten Streitkräften oder in zentralen Lagern, aus denen sie gegebenenfalls verlegt werden können.

Die Forschenden schätzen, dass 3912 dieser Sprengköpfe auf Raketen und von Flugzeugen eingesetzt werden können. Davon sollen etwa 2100 in hoher Alarmbereitschaft gehalten werden. Bei fast allen handelt es sich um russische oder US-amerikanische Sprengköpfe. Die Forschenden gehen jedoch davon aus, dass auch China mehrere Sprengköpfe auf Raketen im Einsatz hat.

Weltweit verfügen neun Staaten - die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel - über Atomwaffen, 90 Prozent davon befinden sich jedoch in Händen der USA und Russlands.

Die Analystinnen und Analysten von SIPRI warnen: Immer mehr Staaten dächten darüber nach, Atomwaffen zu entwickeln oder stationieren zu lassen. Viele Staaten diskutierten wieder über ihre Nuklear-Strategie.

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Dies umfasst auch neue Vereinbarungen zur gemeinsamen Nutzung von Atomwaffen: Russland gibt an, in Belarus Atomwaffen stationiert zu haben. Und einige europäische Mitgliedsstaaten der NATO signalisieren die Bereitschaft, auf ihrem Staatsgebiet US-Atomwaffen stationieren zu lassen.

Sicherheitslage verschlechtert sich seit mehr als einem Jahrzehnt

2007 hielt der russische Präsident Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine Rede, in der er gegen die von den USA dominierte Weltordnung, die NATO-Ost-Erweiterung und die Abrüstung zu Felde zog. Nur zwei Jahre später verkündete der neu gewählte US-Präsident Barack Obama in Prag, Hauptstadt der Tschechischen Republik, das Ziel der völligen atomaren Abrüstung. "Die Existenz von tausenden Atomwaffen ist die gefährlichste Hinterlassenschaft des Kalten Krieges", sagte er.

Er kündigte an, die USA würde "konkrete Schritte auf dem Weg zu einer Welt ohne Atomwaffen" unternehmen und ein neues START-Abkommen, also einen neuen Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen, mit Russland aushandeln. 2011 trat der New-START-Vertrag in Kraft.

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 veröffentlichte die US-Regierung unter Joe Biden jedoch einen Lagebericht zum Nuklearwaffenarsenal, in dem die Modernisierung des Atomwaffenarsenals der Vereinigten Staaten oberste Priorität einnahm. Der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnete im Februar 2023 ein Gesetz, dass die Teilnahme Russlands an New START aussetzte.

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"Die Unsicherheit ist seit 2007, 2008, dann auch mit 2014, langsam gestiegen, bis zu dem Moment im Februar 2022, als die Flutwelle hereinbrach", so beschreibt es SIPRI-Chef Smith. "Ich denke, das war der Punkt, an dem viele normale Bürger zum ersten Mal die Verschlechterung wahrnahmen, die sich über mehr als ein Jahrzehnt entwickelt hatte."

Kurz gesagt: Die atomaren Waffenlager werden weltweit ausgebaut und modernisiert. SIPRI geht davon aus, dass China mindestens 600 atomare Sprengköpfe besitzt und dass sein Atomwaffenarsenal schneller wächst als jedes andere.

"China hat seine militärischen Ausgaben in den vergangenen 30 Jahren Jahr um Jahr gesteigert. Es ist der einzige Staat weltweit, auf den dies zutrifft. Und natürlich hat der Westen seine Beziehungen zu China ebenso wie die zu Russland überdacht", so Smith.

KI und Raumfahrttechnik erhöhen das Risiko eines Atomkriegs

In seiner Einführung zum SIPRI-Jahrbuch 2025 warnt Smith vor einem neuen atomaren Wettrüsten, das "viel mehr Risiken und Unsicherheit" berge, als das Wettrüsten während des Kalten Krieges. Verantwortlich dafür seien vor allem der Aufstieg der Künstlichen Intelligenz und neue Technologien in den Bereichen Cyberfähigkeiten und Raumfahrt.

"Das kommende atomare Wettrüsten wird sich in gleichem Maße um KI, den Cyberspace und den Weltraum drehen, wie um Raketen in Bunkern oder auf U-Booten oder Bomben auf Flugzeugen. Die Software wird genauso wichtig sein, wie die Hardware", so Smiths Überzeugung.

SIPRI-Chef Smith (Archivbild): "Es muss Rote Linien beim Einsatz von KI geben"Bild: SIPRI

Das macht das Problem der Kontrolle und Überwachung atomarer Waffen und Lagerbestände noch komplizierter. Früher wurde der Wettbewerb zwischen den Atomwaffenstaaten dagegen mehr oder weniger allein über die reine Zahl an Sprengköpfen geführt.

Im Zusammenhang mit sogenannten "Tötungsrobotern" (tödlichen autonomen Waffensystemen) und der Verwendung von automatisierten und halb-automatisierten Drohnen in Russlands Krieg gegen die Ukraine wird schon seit Längerem über KI diskutiert. Bei atomaren Waffen ist das noch nicht der Fall.

Mit KI ist es möglich, große Datenmengen extrem schnell zu verarbeiten. In der Theorie hilft dies Entscheidungsträgern, schneller zu reagieren. Gibt es jedoch Probleme mit der Software oder geht in einem System, das sich vollständig maschinelles Lernen und KI stützt, etwas schief, könnte eine kleine technische Panne einen Atomschlag auslösen.

Der frühere russische Oberstleutnant Stanislaw Petrow ✝Bild: picture-alliance/dpa/O. Killig

"Vermutlich stimmen alle politischen und militärischen Führungskräfte mit mir überein, dass es eine Rote Linie geben muss, dass die Entscheidung über einen Atomschlag nicht von künstlicher Intelligenz getroffen werden darf", sagt Smith und verweist auf den sowjetischen Oberstleutnant Stanislaw Petrow.

1983 hatte Petrow Dienst in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung 100 Kilometer südlich von Moskau, als das System den Start einer Interkontinentalrakete aus den USA, gefolgt von vier weiteren, meldete.

Zum Glück vermutete Petrow einen Fehlalarm und wartete, bevor er die Informationen in der Befehlskette weiterleitete. Seine Entscheidung hat aller Wahrscheinlichkeit nach einen atomaren Gegenschlag und im möglicherweise sogar einen Atomkrieg verhinderte.

"Die große Frage lautet, wer in einer Welt mit künstlicher Intelligenz die Rolle von Oberstleutnant Petrow spielt", fragt sich SIPRI-Direktor Smith.

Adaption aus dem Englischen: Phoenix Hanzo

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