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Roma in Auschwitz: Überlebende und Jugendliche gedenken

Keno Verseck (aus Auschwitz)
3. August 2024

Das Gedenken am 80. Jahrestag der "Liquidierung des Zigeunerlagers" von Auschwitz-Birkenau ist ein besonderes: Überlebende und Zeitzeugen erinnern. Zugleich treffen sich viele Jugendliche, um Vorurteile abzubauen.

Eine Menschenmenge vor dem Eingangstor des Lagers Auschwitz mit der Aufschrift am Tor "Arbeit macht frei"
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma (Mi.), zusammen mit der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, am 2.08.2024 vor dem Eingangstor des ehemaligen Vernichtungslagers AuschwitzBild: Keno Verseck/DW

Die alte Dame spricht langsam und nicht sehr laut. Sie sagt, sie sei sehr aufgewühlt, an diesem Ort zu sein, an dem Roma so viel Leid zugefügt worden sei. Deshalb werde ihre Begleiterin weiter vorlesen, was sie sagen wolle.

Es ist der 2. August 2024, die Sintizza und Holocaust-Überlebende Alma Klasing, geboren 1937, steht in der Mittagssonne auf einem Podium in Auschwitz-Birkenau. Sie übergibt ihr Redemanuskript an ihre junge Begleiterin. Die liest Alma Klasings Lebensgeschichte vor. Eine Geschichte aus der Hölle der NS-Zeit in sehr einfachen Worten. Darüber wie Klasings Familie vor der Deportation nach Auschwitz flüchtete und sich in den Wäldern Baden-Württembergs versteckte. Wie sich die Familie von essbaren Pflanzen und Beeren ernährte, wie sie den Krieg überlebte und der Vernichtung entkam. Anders als viele Verwandte, die in Auschwitz ermordet wurden.

Alma Klasing (re., mit grünem Umhang), am 2.08.2024 an der Gedenkstätte für den Völkermord an den Roma und Sinti in Auschwitz-BirkenauBild: Keno Verseck/DW

Am Ende stehen mahnende Worte Alma Klasings: "Die Wahlerfolge der rechten Parteien machen mir große Angst. Deshalb möchte ich gerade die Jugend vor diesen falschen Propheten warnen und bitte euch von ganzem Herzen: Verteidigt unsere Demokratie!" Als die alte Dame das Podium verlässt, erheben sich die einigen hundert Anwesenden spontan und klatschen lange.

Besonderes Gedenken

Jedes Jahr am 2. August erinnern Roma und Sinti in Auschwitz an die sogenannte "Liquidierung des Zigeunerlagers" Auschwitz-Birkenau am 2. August 1944. Damals wurden dort in einer einzigen Nacht tausende Roma und Sinti vergast, erschossen und erschlagen. Der 2. August ist seit 2015 der "Europäische Holocaust-Gedenktag für Roma und Sinti". Erinnert wird mit ihm an die Ermordung von 500.000 Roma und Sinti aus ganz Europa durch das NS-Regime unter Adolf Hitler (1933 bis 1945). Analog zum Begriff Holocaust, der den Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden benennt, gibt es in Romani den Begriff "Porajmos", was soviel bedeutet wie "das Verschlingen".

In diesem Jahr ist das Gedenken besonders, denn der 2. August 1944 jährt sich zum 80. Mal. Und so sind diesmal mehr Menschen zur Zeremonie gekommen als üblich, auch mehr hochrangige deutsche, polnische und internationale Teilnehmer.

Romani Rose (re.) spricht zu den deutschen Politikerinnen Manuela Schwesig (li.), Bärbel Bas (2.v.li.) und Claudia Roth (3.v.li.)Bild: Keno Verseck/DW

Bereits am Morgen führt Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma, der das Gedenkens mit organisiert, die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas durch die Gedenkstätte im Hauptlager Auschwitz I. Später kommen auch die Kulturstaatsministerin Claudia Roth und die amtierende Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig dazu.

Antiziganismus weit verbreitet

Romani Rose hat Auschwitz ungezählte Male besucht. Er, einige seiner Familienangehörigen und der Zentralrat haben viel dafür getan, dass der NS-Völkermord an den Roma und Sinti hier im Vernichtungslager eine würdige Gedenkstätte erhält. Dennoch spürt man, dass es auch dieses Mal kein Routinetermin für Rose ist. Er erzählt von seiner Familiengeschichte, von der systematischen Marginalisierung im NS-Regime, von der Deportation nach Auschwitz und von seinen Großeltern, die hier ermordet wurden. Am Ende seiner Führung sagt Rose in eindringlichen Worten, Auschwitz sei Vermächtnis und Verpflichtung, für Demokratie und Rechtsstaat einzutreten, und es nicht zuzulassen, dass Europa erneut in einen Abgrund geführt werde.

Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, im "Block 13" des ehemaligen Hauptlagers Auschwitz, wo eine Gedenkstätte für den Völkermord an den Roma und Sinti eingerichtet istBild: Keno Verseck/DW

Die deutschen Politikerinnen sind sichtlich betroffen. Später, im Konferenzraum der Gedenkstätte, bekennen sich alle drei zu der Verantwortung, die Deutschland aus den NS-Verbrechen erwachse. Und sie sprechen auch die deutsche Nachkriegsschuld an - also, dass der Völkermord an Roma und Sinti nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang nicht anerkannt wurde und dass Antiziganismus in Deutschland bis heute weit verbreitet sei.

Rose: Auschwitz verpflichtet Europa zur Menschlichkeit 

02:54

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Keine Appeasement-Politik mehr

Es klingt glaubwürdig, aber auch vage, denn keine der drei lässt ihren Worten Konkretes folgen. Etwa das Versprechen, den Begriff "Sozialtouristen" für Roma aus Mittel- und Südosteuropa zu ächten, die vor Diskriminierung, Marginalisierung und Rassismus fliehen. Oder das Versprechen, für die überlebenden Roma und Sinti der NS-Vernichtungspolitik wenigstens in ihren letzten Lebensjahren die materiellen Voraussetzungen für ein würdiges Dasein zu schaffen und damit einen Schlusstrich unter die demütigende Entschädigungspraxis vergangener Jahrzehnte zu setzen.

Die Bahngleise und das Eingangstor des Konzentrationslagers Auschwitz-BirkenauBild: Friso Gentsch/dpa/picture alliance

Konkret wird hingegen Zygimantas Pavilionis, stellvertretender litauischer Parlamentspräsident und Diplomat. Er sagt, "Nie wieder" müsse heute bedeuten, keine Appeasement-Politik mehr gegenüber dem Bösen zu betreiben, so wie einst gegenüber Hitler. Es dürfe keine "Deals mit Putin", dem "heutigen Hitler", geben. Europa müsse vielmehr alles dafür tun, "der Ukraine zu helfen, damit sie das Böse besiegt".

Wunsch nach neuen Akzenten

Zwei Stunden später in Auschwitz-Birkenau, am Ort des "Zigeunerlagers", das in der Nacht vom 2. auf den 3. August "liquidiert" wurde: Hier findet am zentralen Mahnmal für den Völkermord an den Roma und Sinti der große Gedenkakt des Tages statt. Neben Alma Klasing spricht unter anderem Boleslaw Rumanowski, ein polnischer Rom und Überlebender des Porajmos. Auch Romani Rose und der Präsident des Verbandes der polnischen Roma, Roman Kwiatkowski, halten Ansprachen. Später sprechen noch einmal Bärbel Bas, polnische Staatsvertreter sowie der Leiter der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Dani Dayan. Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres ist mit einer Videobotschaft präsent.

Unter vielen jüngeren Roma, die bei der Zeremonie anwesend sind, gibt es den Wunsch nach zusätzlichen, neuen Akzenten auf der Gedenkveranstaltung. Von Kritik an dem Gedenken möchte niemand sprechen, aber manche hätten sich gewünscht, dass auch Vertreter junger Roma zu Wort kämen oder dass mehr Roma-Symbolik präsent wäre - beispielsweise die blau-grüne Roma-Flagge mit dem roten Rad als Wappen.

Zeljko Jovanovic, Leiter der Roma Foundation for EuropeBild: Florian Schmitz/DW

Zeljko Jovanovic, Leiter der Roma Foundation for Europe, sagt der DW, Erinnerung und Gedenken seien ohne Zweifel unabdingbar. "Aber es wäre gut, wenn wir künftig auch betonen, dass wir nicht die ewigen Opfer sind, sondern eine starke Gemeinschaft mit einem starken Selbstbewusstsein, und dass wir in den vergangenen Jahrzehnten kulturell und intellektuell viel geleistet haben. Wir sind stolze Roma, und das müssen wir zeigen."

Jugendprogramm "Schau und vergiss nicht"

Tatsächlich sind schon seit einigen Jahren - so auch an diesem 2. August - hunderte junge Menschen bei der Gedenkzeremonie dabei, viele von ihnen Roma. Sie nehmen an dem Jugendprojekt "Dikh He Na Bister" (Schau und vergiss nicht) teil, das unter anderem vom Europäischen Roma-Institut für Kunst und Kultur (ERIAC) mitorganisiert wird. Im Umfeld des Gedenkens vom 2. August treffen sich dabei fünf Tage lang 300 bis 400 Jugendliche, Roma und Nicht-Roma, in Krakau und in Auschwitz, um sich kennenzulernen und über Stereotype und Vorurteile gegen Roma zu sprechen.

Einer der Mitorganisatoren des Projekts ist Petro Rusanienko, Schaupieler, Kulturaktivist, ERIAC-Mitarbeiter und Rom aus der Ukraine. Der 30-Jährige stammt aus der ostukrainischen Region Donezk und floh bereits 2014, als der Krieg in der Ostukraine begann, vor der russischen Besatzung. Seit zwei Jahren lebt er in Berlin.

Petro Rusanienko, Rom aus der Ukraine, Schauspieler, Kulturaktivist und Mitarbeiter des Europäischen Roma-Instituts für Kunst und Kultur (ERIAC) Bild: Keno Verseck/DW

Rusanienko nimmt seit sechs Jahren an dem Jugendprogramm Dikh He Na Bister teil. Auschwitz ist für ihn jedesmal auf besondere Weise mit seiner Heimat verknüpft. "Man kann Auschwitz nicht mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine vergleichen, aber in beiden Fällen geht es um Totalitarismus und seine Konsequenzen", sagt er der DW. "Auschwitz war die Endstation des Totalitarismus. Heute spricht Putin davon, dass unsere Nation nicht existiert und will unser Land vernichten. Gegen diesen Totalitarismus müssen wir kämpfen."

Petro Rusanienko hat selbst schon erlebt, wie das Jugendprojekt Bekannte und Freunde verändert hat. Er erzählt von einer ukrainischen Freundin, die, wie er sagt, kaum etwas über Roma wusste und eher Stereotype im Kopf hatte. Eines Tages habe er sie mitgenommen auf ein Flamenco-Konzert, und sie habe erfahren, dass spanische Roma zu den Schöpfern des Flamenco gehören. "Irgendwann hat sie sich dann selbst für unser Programm Dikh He Na Bister angemeldet", sagt Rusanienko. "So können das Gedenken in Auschwitz und unser Programm dazu beitragen, dass Menschen ihre Vorurteile verlieren und sich verändern."