Die Polizei kennt das Problem. Dennoch nimmt die Gewalt ultranationalistischer Gangs gegen Roma zu. Die Angriffe verdeutlichen das feindliche Klima gegenüber vielen gesellschaftlichen Minderheiten in der Ukraine.
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Der 23. Juni schien ein normaler Arbeitstag zu sein. Nach dem Abendessen saßen in dem Roma-Zeltlager im Wald in der Nähe der ukrainischen Stadt Lwiw, dem ehemaligen Lemberg, noch einige Bewohner am Lagerfeuer zusammen. Andere hatten sich bereits zum Schlafen zurückgezogen.
Kurz vor Mitternacht schallten dann auf einmal aggressive Stimmen aus dem Dunkeln. Eine Gruppe maskierter und mit Messern bewaffneter Männer stürmte in das Zeltlager, schmiss mit Gegenständen um sich, schlitzte Zeltwände auf und schrie "Zigeuner raus". Die Attacke dauerte nur wenige Minuten. Ein 24-jähriger Mann wurde erstochen und erlag später seinen Verletzungen. Eine 30-jährige Frau, deren zehnjähriger Sohn sowie zwei 19-Jährige wurden schwer verletzt.
"Sie haben uns mit großen Messern angegriffen und geschrien, 'wir bringen Euch um'", berichtet der 19-Jährige, schwer verletzte Raj. Gemeinsam mit den anderen Opfern wurde er im Krankenhaus behandelt und danach vorübergehend in eine sichere Unterkunft gebracht. Sein älterer Bruder David kam bei dem Angriff ums Leben.
Seit der Attacke stehen die Bewohner des Zeltlagers unter Schock. "Die Leute haben große Angst, sie wollen mit niemandem sprechen, noch nicht einmal mit den Anwälten, die ihnen beistehen sollen", sagt Mykola Yurchenko, Chef der lokalen Nichtregierungsorganisation "Roma of Ukraine Ternipe".
Straftat Hassverbrechen
Offiziell gilt das Verbrechen als gemeinschaftlicher Mord, für das die Tatverdächtigen mit Haftstrafen von bis zu 15 Jahren rechnen müssen. Ihnen werden außerdem Rowdytum und Hassverbrechen zur Last gelegt. Letzteres wird in der Ukraine eher selten als Straftatbestand erhoben.
Bei den Tatverdächtigen soll es sich um Mitglieder einer radikalen Gang mit dem Namen "Sober and Angry Youth" handeln. In den digitalen Medien bekennt sich die Gruppe klar zu rechtsextremen Gesinnungen und Nazi-Symbolen und positioniert sich gegen Alkohol- und Drogenkonsum. Nach Angaben der ukrainischen Polizei sind bisher acht Tatverdächtige festgenommen worden. Sieben von ihnen sind Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren. Der achte, ein 20-jähriger Ukrainer, gilt als Anführer der Gruppe.
Hetze gegen Minderheiten
Rund 260.000 Roma leben nach Schätzungen des Europarats in der Ukraine. Viele von ihnen wandern seit Jahrzehnten im Sommer als Saisonarbeiter durchs Land und errichten während des Aufenthalts vorübergehend Zeltlager im Wald. Die Bedrohungen haben nicht nur gegenüber den Roma, sondern gegenüber allen gesellschaftlichen Minderheiten im Land spürbar zugenommen. Allein in diesem Jahr haben Menschenrechtsgruppen zwei Dutzend gewaltsame Übergriffe und Einschüchterungen von Gangs registriert.
Der jüngste Vorfall in Lwiw ist der sechste Angriff auf Roma innerhalb von nur zwei Monaten und der Erste mit einem Todesopfer. Zu Beginn des Monats hatte die rechten Milizen "Nationale Brigaden" ein Roma-Lager in der Hauptstadt Kiew zerstört und die Bewohner in Todesangst versetzt. Ähnliche Vorfälle wurden in der Stadt Ternopil und in einem Dorf in der Nähe von Lwiw gemeldet.
Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma
Seit 600 Jahren leben Sinti und Roma in Europa. Im Machtbereich der deutschen Nationalsozialisten wurden sie ausgegrenzt, zwangssterilisiert und ermordet. Nach 1945 wurde ihre Verfolgung über Jahrzehnte bestritten.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Im Einsatz für Volk und Vaterland
Viele deutsche Sinti hatten nicht nur im Ersten Weltkrieg für das Kaiserreich gedient, sie kämpften auch ab 1939 in der Wehrmacht. 1941 ordnete das Oberkommando "aus rassenpolitischen Gründen" die "Entlassung von Zigeunern und Zigeunermischlingen aus dem aktiven Wehrdienst" an. Alfons Lampert wurde danach gemeinsam mit seiner Frau Else nach Auschwitz deportiert, wo beide starben.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Vermessen und erfasst von Rassenforschern
Die Krankenschwester Eva Justin lernte die Sprache Romanes, um das Vertrauen der Minderheit zu gewinnen. Im Gefolge des Rassenforschers Robert Ritter zog sie quer durchs Land, um Menschen zu vermessen und lückenlos als "Zigeuner" und "Zigeunermischlinge" zu registrieren - die Grundlage für den Völkermord. Man erforschte Verwandtschaftsverhältnisse und wertete die Taufregister der Kirchen aus.
Bild: Bundesarchiv
Eingesperrt und entrechtet
Wie hier in Ravensburg im Südwesten Deutschlands wurden Sinti und Roma-Familien Ende der 1930er Jahre vielerorts in Lagern am Stadtrand eingesperrt, umzäunt mit Stacheldraht, kontrolliert von Hundeführern. Niemand durfte seinen Aufenthaltsort verlassen. Haustiere wurden getötet. Die Menschen mussten Zwangsarbeit leisten. Viele wurden zwangssterilisiert.
Bild: Stadtarchiv Ravensburg
Deportation in aller Öffentlichkeit
Im Mai 1940 wurden Sinti- und Roma-Familien aus Südwestdeutschland durch die Straßen von Asperg zum Bahnhof gebracht und von dort direkt in das besetzte Polen deportiert. Im Kripo-Bericht hieß es: "Der Abtransport ging glatt vonstatten." Für die meisten Deportierten wurde es eine Fahrt in den Tod, sie starben in Arbeitslagern und jüdischen Ghettos.
Bild: Bundesarchiv
Von der Schulbank nach Auschwitz
Karl Kling auf einem Klassenfoto der Volksschule in Karlsruhe Ende der 1930er Jahre. Im Frühjahr 1943 wurde er während des Unterrichts abgeholt und ins "Zigeunerlager" nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er dem Völkermord zum Opfer fiel. Überlebende berichteten, dass sie schon vor der Deportation in den Schulen ausgegrenzt und teilweise gar nicht mehr unterrichtet wurden.
Die Verantwortung eines Bürgermeisters
Der Bürgermeister von Herbolzheim beantragte 1942 die "Wegnahme" der Sinti-Familie Spindler. 16 Familienmitglieder wurden nach Auschwitz deportiert, zwei überlebten. 60 Jahre später klärte Bürgermeister Ernst Schilling die Ereignisse auf. Die Stadt erinnert seitdem an die Ermordeten. Schilling sagt, ihm sei bewusst geworden, wie viel Verantwortung ein Bürgermeister für das Leben von Menschen habe.
Bild: DW/A. Grunau
Mord und Verfolgung quer durch Europa
Wo immer das nationalsozialistische Deutschland die Herrschaft hatte, wurde die Minderheit verfolgt. Sinti und Roma wurden in "Zigeunerlager" oder mit Juden in Ghettos wie Warschau eingeschlossen, in "Vernichtungslager" deportiert und ermordet. Man schätzt, dass bis zu 500.000 Menschen durch Erschießungen, Gas, Verhungern, Krankheiten, medizinische Experimente oder andere Gewaltakte starben.
Lüge am Eingangstor
"Ich kann arbeiten", dachte der 9-jährige Hugo Höllenreiner aus München, als er 1943 wie Tausende andere mit der Familie im Viehwaggon nach Auschwitz kam. Der Schriftzug "Arbeit macht frei" machte Hoffnung, erinnerte er sich später. Er wollte seinem Vater beim Arbeiten helfen: "Dann kommen wir schon wieder frei." Nur etwa jeder Zehnte der nach Auschwitz Deportierten überlebte.
Bild: DW/A. Grunau
Die Schwarze Wand
Namentlich bekannt sind 54 Sinti und Roma, die 1943 vor der Schwarzen Wand im Hof des Stammlagers Auschwitz zwischen Block 10 und dem Todesblock 11 von SS-Leuten hingerichtet wurden - darunter auch Jugendliche. Im Buch "Auschwitz. Die Geschichte des Vernichtungslagers" schreibt Susanne Willems: "Johann Betschker ermordeten sie am 29. Juli 1943, an seinem 16. Geburtstag."
Bild: DW/A. Grunau
"Die Lagerstraße war übersät mit Toten"
"In einer Baracke, die vielleicht Platz für 200 Menschen gehabt hätte, waren oft 800 und mehr untergebracht", erinnerte sich Elisabeth Guttenberger, "die Hölle war das." 40 Baracken gab es im "Zigeunerlager" im Abschnitt BIIe, ein Block war "die Toilette für das ganze Lager". Franz Rosenbach, damals 15 und Zwangsarbeiter, erinnerte sich: "Die Lagerstraße von Birkenau war übersät mit Toten."
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
"Kopf einer Leiche (12-jähriges Kind)"
SS-Arzt Josef Mengele war Lagerarzt im Abschnitt BIIe. Er und seine Kollegen quälten zahllose Häftlinge. Sie verstümmelten Kinder, infizierten sie mit Krankheiten, forschten an Zwillingspaaren und ermordeten sie mit Spritzen ins Herz. Augen, Organe und ganze Körperteile schickte Mengele nach Berlin. Im Juni 1944 versandte er den Kopf eines 12-jährigen Kindes. Er stand nie vor Gericht.
Bild: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
Asche der Ermordeten
Die Häftlinge litten an Hunger, Durst, Kälte, Krankheiten und brutaler Gewalt. Kleine Kinder und alte Menschen starben zuerst. Kranke wurden in den Gaskammern ermordet. Die Leichen wurden verbrannt. Im "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau konnte man den Rauch der Krematorien sehen und riechen. Die Asche der Toten wurde auch in solchen Teichen versenkt, wo Angehörige heute Blumen niederlegen.
Bild: DW/A. Grunau
Befreiung - zu spät für Sinti und Roma
Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichte, traf sie dort auch auf gefangene Kinder. Für Sinti und Roma kamen die Befreier zu spät. Schon in der Nacht auf den 3. August 1944 trieb die Lagerleitung die verbliebenen Menschen aus dem "Zigeunerlager" in die Gaskammern. Zwei Kinder kamen am Morgen nach der Mordnacht weinend aus den Baracken, sie wurden "nachgeliefert".
Bild: DW/A. Grunau
Aus rassischen Gründen verfolgt
Nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern stellten alliierte oder deutsche Stellen Überlebenden Bescheinigungen über rassische Verfolgung und die KZ-Haft aus. Später mussten sich viele anhören, sie seien nur als Kriminelle verfolgt worden, Anträge auf Entschädigungen wurden abgelehnt. Hildegard Reinhardt hat in Auschwitz ihre drei kleinen Töchter verloren.
Bild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Hungerstreik gegen Kriminalisierung
Anfang der 1980er Jahre wussten sich die Vertreter der Sinti und Roma keinen Rat mehr. Mit einem Hungerstreik auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau kämpften KZ-Überlebende gegen die Kriminalisierung der Minderheit und für die Anerkennung der NS-Verfolgung. 1982 stellte Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell fest, dass Sinti und Roma Opfer eines Völkermords waren.
Bild: picture-alliance/dpa
Ort des Gedenkens in Berlin
In der Nähe des Bundestags entstand 2012 im Berliner Tiergarten die Gedenkstätte für die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Verbände rufen besonders am Welt-Roma-Tag zum Kampf gegen Antiziganismus auf. Diese Feindseligkeit der Mehrheitsgesellschaft erleben auch heute noch viele Mitglieder der Minderheit in Deutschland und Europa.
Bild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld
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Nach Angaben des ukrainischen Rechtsanwalts Dmytro Shvets, der die Opfer des jüngsten Angriffs in Lwiw auf die Roma verteidigt, hat die Anzahl der Hassverbrechen in der Ukraine generell zugenommen. Die ukrainische Polizei verhalte sich bei den Ermittlungen allerdings sehr zurückhaltend. Der Chef der ukrainischen Nationalpolizei, Serhiy Knyazev, bestätigt, dass die Angriffe auf die Roma-Gemeinden zunehmen. Die Polizei sei bereit, mehr Anstrengungen zu unternehmen, um der Lage gerecht zu werden.
Internationale Aufmerksamkeit
Mit der steigenden Anzahl der Übergriffe wächst auch die Kritik an den ukrainischen Behörden, gegenüber Hassverbrechen nicht länger die Augen zu verschließen. "Es ist sehr wichtig, dass Entscheidungsträger auf allen Ebenen, bis hinauf zu den höchsten politischen Autoritäten, auf diese Entwicklung reagieren", erklärte der Generalsekretär des Europarates.
"Die jüngste Gewaltattacke muss ein Weckruf für die ukrainische Polizei sein, endlich ernsthaft gegen Hassverbrechen vorzugehen", fordert die Organisation "Human Rights Watch". Die deutsche Menschenrechtsbeauftragte Bärbel Kofler erklärte in einer Stellungnahme, dass sie die "vollständige Aufklärung und Ahndung dieser schrecklichen Tat durch die ukrainischen Behörden und Gerichte" erwarte.