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Politik

Roma-Morde: Ein vergessenes Hassverbrechen

2. August 2018

Vor zehn Jahren begann die Roma-Mordserie in Ungarn. Die überlebenden Opfer sind heute nahezu vergessen, die meisten leben im Elend. Keno Verseck hat mit einigen von ihnen gesprochen.

Roma-Mordserie in Ungarn: Ein vergessenes Hassverbrechen
Bild: S. Barakonyi

Einst war Éva Kóka ein lebensfroher Mensch. Zusammen mit ihrem Mann Jenö führte sie ein bescheidenes, aber glückliches Leben. Die beiden Eheleute wohnten im Ort Tiszalök in Ostungarn in einem schönen Haus mit Garten. Sie hatten seit Jahrzehnten feste Arbeitsplätze, er in einem Pharmawerk, sie in einer Holzfabrik. Im Ort wie auf der Arbeit waren sie geachtet und geschätzt. 

Dann kam der Tag, der alles änderte. Es war der 22. April 2009.        

Am Abend dieses Tages trat Jenö Kóka vor die Haustür, um zur Nachtschicht ins nahe gelegene Pharmawerk zu fahren, wo er seit 38 Jahren arbeitete. Plötzlich traf ein Schuss aus einem Gewehr den 54-Jährigen direkt ins Herz, Jenö Kóka war sofort tot. Der Mörder hatte unweit des Hauses in einem Gebüsch gelauert. "An diesem Abend wurde auch mein Leben zerstört", sagt Éva Kóka. 

Ihr Mann war das fünfte Todesopfer der Roma-Mordserie in Ungarn in den Jahren 2008/2009, bei der rechtsextreme Täter insgesamt sechs Menschen ermordeten und 55 weitere schwer verletzten. Aus einem einzigen Grund: Weil sie Roma waren.

Vor zehn Jahren, im Sommer 2008, in der Endphase der sozialistisch-liberalen Regierungsperiode, begann die Anschlags- und Mordserie mit einem Schusswaffenangriff im Dorf Galgagyörk nordöstlich von Budapest. Verletzt wurde dabei noch niemand. Die ersten beiden Morde verübten die Täter im November 2008, den letzten im August 2009. Im selben Monat wurden sie gefasst: vier Rechtsextreme aus Ostungarn. Drei von ihnen erhielten 2014 lebenslängliche Haftstrafen, ein Mittäter 13 Jahre Gefängnis.

Staatliche Mitverantwortung 

Die Roma-Morde waren eines der schlimmsten rassistischen Verbrechen in Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch inzwischen ist es im Land nahezu vergessen. Es gibt kaum noch Gedenkveranstaltungen, für das Schicksal der überlebenden Opfer und ihrer Angehörigen interessieren sich nur wenige Medien und Einzelpersonen.  

Dabei gab es ähnlich wie im Falle der NSU-Morde in Deutschland auch bei der Roma-Mordserie in Ungarn eine staatliche Mitverantwortung: Ein Geheimdienst gab Erkenntnisse nicht weiter, Ermittler hatten einen rechtsextremen Hintergrund lange Zeit ausgeschlossen. Ohne solche Fahrlässigkeiten hätten die beiden letzten Morde, darunter auch der an Jenö Kóka, wohl verhindert werden können.

Éva Kóka brach nach dem Mord an ihrem Mann psychisch wie körperlich zusammen. Sie musste ihre Arbeit in der Holzfabrik aufgeben und zog zu ihrer Tochter in einen nahe gelegenen Ort, wo sie seither lebt. Sie möchte nicht, dass die Öffentlichkeit den Namen des Ortes erfährt. Denn auch fast zehn Jahre nach dem Mord fürchtet sie sich - und ist fest überzeugt, dass es noch weitere Täter gibt, die nicht verhaftet wurden.

Einst führte Éva Kóka ein bescheidenes, aber glückliches Leben mit ihrem Mann JenöBild: S. Barakonyi

Depressionen und bittere Armut 

Sie leidet unter chronischer Unruhe und Depressionen, hat Rheuma, Arthrose, einen kaputten Rücken und ständig angeschwollene Beine. Eine Hormonbehandlung, die sie machen musste, führte bei der einst schlanken Frau zu Übergewicht. Im November 2017 erklärten Ärzte sie dennoch für arbeitsfähig und strichen ihre Krankenrente. Éva Kóka sagt, sie habe bei der Anhörung zum Anspruch auf Krankengeld einfach kein Wort herausbringen können und sei deshalb für gesund erklärt worden.

Seitdem hat die heute 56-Jährige kein Einkommen mehr - auf ihre reguläre Rente muss sie noch vier Jahre warten. Dabei leben ihre Tochter, ihr Schwiegersohn und deren sechs Kinder ebenfalls in sehr ärmlichen Verhältnissen, von umgerechnet rund 300 Euro im Monat. Éva Kókas Schwiegersohn Zsolt Kis arbeitet im kommunalen Arbeitsprogramm und erhält dafür umgerechnet rund 150 Euro, der Rest des Familieneinkommens ist Kindergeld.

Auf Initiative von Zoltán Balog, calvinistischer Pfarrer und unter Premier Viktor Orbán von 2012 bis April 2018 Minister für Humanressourcen, bekamen die Überlebenden der Mordserie im Jahr 2014 einmalige Entschädigungen ausgezahlt, zwischen 4.000 und 7.000 Euro. Regelmäßige Unterstützung gab es nicht. In einem ausführlichen Gespräch bewertet Balog das zum ersten Mal öffentlich als fehlerhaft: "Eine langfristige Lösung wäre besser gewesen, aber ich habe mich mit dieser Sichtweise in der Regierung nicht durchsetzen können." Chancen für eine neue Entschädigungslösung sehe er aber nicht mehr: "Die Angelegenheit wurde ad acta gelegt."

Balog: Politik wollte schnell zur Tagesordnung zurückkehren

Zoltán Balog ist einer der wenigen ungarischen Regierungspolitiker, der die Roma-Mordserie und das Schicksal ihrer Opfer immer wieder thematisiert hat. Anlässlich des zehnten Jahrestags des Beginns der Mordserie sagt Balog bedauernd, die ungarische Politik habe nach den Morden schnell wieder zur Tagesordnung zurückkehren wollen.

Auch der Filmemacher und Schriftsteller András B. Vágvölgyi ist einer der wenigen in Ungarn, die immer wieder an die Roma-Mordserie erinnern. Vágvölgyi war während des zweieinhalbjährigen Prozesses gegen die Mörder, der im August 2013 endete, an fast jedem Verhandlungstag dabei und hat über die Täter 2017 das Buch "Front im Osten" geschrieben. Ungarns heutige nationalistische Regierung wolle diese Art von rassistischen Verbrechen vergessen machen, sagt Vágvölgyi. Er erinnert an ein aktuelles Beispiel: die seit 2016 andauernden Übergriffe gegen Roma in der Ukraine, bei denen im Juni dieses Jahres in Lemberg der ungarischsprachige Rom Dávid Pap ermordet wurde. "Wann immer es um ungarische Minderheiten im Ausland geht, reagiert Orbáns Regierung schnell und scharf", kritisiert Vágvölgyi, "aber im Fall der ungarischsprachigen Roma in der Ukraine schweigt sie."

Éva Kóka hat keine Kraft mehr, sich zu empören. Nicht nur ist durch den Mord an ihrem Mann auch ihr Leben zerstört worden, das materielle Elend, in dem sie und ihre Familie leben, zermürbt sie jeden Tag aufs Neue. Sie denkt oft an ihren Mann, und sie würde es gern in Würde tun. Sie hat eine tragische Hoffnung. "Eines Tages, vielleicht schon bald", sagt sie, "werde ich für immer bei meinem Mann sein."   

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