Aktionsbündnis gegen Antiziganismus
8. April 2016Cristina lebt in einer Roma-Siedlung am Rande eines transsilvanischen Dorfes in Rumänien. Sie ist 15 Jahre alt und kommt aus zerrütteten Verhältnissen. "Cristinas Mutter hat sieben Kinder von sieben Vätern", erzählt uns Eginald Schlattner, evangelischer Pfarrer im Dorf. In Deutschland ist er auch als Autor bekannt. Cristina wohne bei ihrer Großmutter, "vier Generationen, elf Personen in einer Hütte mit drei Betten".
Bittere Armut, Gewalt, Kriminalität und kaum eine Möglichkeit, diesem Teufelskreis zu entrinnen - das ist der Alltag für viele Roma. Auch in Rumänien. Trotz nationaler Hilfsprogramme kommt wenig bei den Betroffenen am Rande der Gesellschaft an. Deshalb sind lokale Privatinitiativen so wichtig. Schlattner ist es gelungen, rund 25 Roma-Kindern aus dem Dorf den Besuch einer Berufsschule in der benachbarten Stadt Sibiu/Hermannstadt zu ermöglichen. Spender aus der Schweiz, Österreich und Deutschland halfen ihm, das Projekt weiterzuführen. "Cristina hat es geschafft, das erste Semester der Berufsoberschule in allen Disziplinen abzuschließen", berichtet Schlattner, nicht ohne Stolz. Der Pfarrhof steht den Roma-Kindern offen, sie können dort essen, duschen und ihre Hausaufgaben machen. Bildung, so der 83-jährige Pfarrer und Romancier, sei der einzige Weg für die Roma, den Anschluss an die Gesellschaft zu finden.
Kampf gegen Vorurteile
"Die Roma-Völker sind die Verlierer der Vereinigung Europas." Davon ist auch Petra Rosenberg überzeugt. Sie selbst gehört der Minderheit der Sinti in Deutschland an und ist eine ihrer prominenten Interessenvertreter. Vor allem die Situation der Roma in den Balkanländern verlange mehr Aufmerksamkeit, sagte Petra Rosenberg in einem Gespräch mit der DW. Infolge jahrhundertealter Ressentiments lebten die meisten Roma dort in größter Armut, ihre Chancen auf Bildung und Arbeit seien gering, sie erlebten oft Anfeindungen und Hass. Ihre letzte Hoffnung bliebe oft die Flucht nach Westeuropa. "Doch hier finden sie auch keine Beachtung, sondern stoßen auf die alten Vorurteile", weiß Rosenberg zu berichten.
Das treffe aber nicht nur für die Roma zu, sondern auch für Sinti in Deutschland, die als nationale Minderheit anerkannt seien, fügt sie bitter hinzu: "Noch immer erfahren wir Ausgrenzung und Ablehnung", sagt die Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma in Berlin-Brandenburg. Viele, vor allem junge Menschen, würden deshalb ihre ethnische Herkunft verbergen.
Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, hat im Vorfeld des Internationalen Roma-Tages (8. April) zu einer Kampagne gegen den Antiziganismus und zu Solidarität mit den Sinti und Roma Europas aufgerufen. Über 20 Organisationen aus Politik, Zivilgesellschaft und Kultur haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen, um auf die fortwährende Diskriminierung der größten europäischen Minderheit aufmerksam zu machen.
"Der Rassismus, den Sinti und Roma europaweit im Alltag erleben, ist unerträglich. Und niemand schaut hin!", sagte Neumärker bei der Vorstellung seiner Initiative. Man dürfe es nicht den Betroffenen selbst überlassen, auf den Antiziganismus und dessen oft existenzbedrohende Folgen hinzuweisen. "Wir als Mehrheit müssen diese Situation endlich öffentlich benennen, verurteilen und dagegen angehen", so der Initiator des Bündnisses.
Prominente zeigen Solidarität
Unterstützung bekommt das Bündnis auch durch den ehemaligen deutschen Fußballnationalspieler Arne Friedrich. Seine nach ihm benannte Stiftung setzt sich für die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ein. Für Friedrich war es ein besonderes Anliegen, das Bündnis zu unterstützen, "da vor allem die Kinder der Minderheit unter Rassismus zu leiden haben". Ohne Bildung und Chancengleichheit bestehe für diese Kinder keine Möglichkeit auf Integration, so der prominente Sportler, der am Roma-Tag den Aufruf des Bündnisses im Rahmen einer Kundgebung am Berliner Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma verlas.
Mit dem Aufruf will das Bündnis auch die Debatte um Abschiebung der Roma in sogenannte sichere Herkunftsländer neu anstoßen. Die Geschichte der Roma-Brüder Kefaet und Selami Prizreni steht dabei im Mittelpunkt. Ihre Familie flüchtete Anfang der 1990er-Jahre vor den unsicheren Zuständen im Kosovo nach Deutschland. Kefaet war damals vier Jahre alt, sein Bruder Selami wurde in Deutschland geboren. Beide besuchten in Deutschland Kindergarten und Schule. Als Hip-Hop-Musiker machten sie sich bald einen Namen über die Grenzen ihrer Heimatstadt Essen hinaus. 2010 wurden die beiden Brüder in den Kosovo abgeschoben. Dort wurden sie als "Deutsche" von ihren früheren Landsleuten nicht akzeptiert.
Seit 2014 sind die Brüder Prizreni wieder in Deutschland, über ihren Status ist allerdings noch nicht entschieden worden. In einem Brief an die deutsche Öffentlichkeit schilderten die beiden Brüder ihr Schicksal, ein Dokumentarfilm ("Trapped by Law") erzählt ihre Odyssee. "Wir wollen kein Mitleid, wir wollen Anerkennung", sagt Selami Prizreni. Mit dieser Botschaft wollten die beiden Brüder auch bei der Berliner Kundgebung am 8. April auf der Bühne stehen. Eine Botschaft, die für alle Minderheiten Geltung hat und auch bei der Mehrheit endlich ankommen soll.