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PolitikEuropa

"Rote Knospen" - eine Fernsehserie spaltet die Türkei

18. Januar 2024

Zwei Wochen Sendepause samt Geldstrafe hat die türkische Medienbehörde gegen die Serie "Rote Knospen" verhängt, in der religiöse und liberale Welten aufeinanderprallen. Die Serie sei wohl zu realistisch, meinen manche.

Das Plakat der Fernsehserie Rote Knospen (Kizil Goncalar) mit dem Schauspieler Özcan Deniz im dunkelen Anzug und der Schauspielerin Özgü Namal mit einem braunen Kopftuch.
Rote Knospen (Kizil Goncalar) glänzt mit Starbesetzung; Links der Musiker und Schauspieler Özcan Deniz, rechts die Schauspielerin Özgü Namal. Bild: ANKA

Eine TV-Serie sorgt derzeit für erhitzte Diskussion in der Türkei. Sie heißt "Kizil Goncalar", zu Deutsch "Rote Knospen", und startete Mitte Dezember im regierungskritischen Sender Fox TV. Der Name klingt nach einer typischen türkischen Seifenoper - doch das ist sie nicht: Sie hat politische Sprengkraft, weil sie der Gesellschaft einen Spiegel vorhält und zeigt, in welchen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen das Land steckt. Vor allem macht sie deutlich, wie tief die Türkei bereits gespalten ist: in eine streng islamisch-religiöse und eine liberal-westliche Lebenswelt.    

Erzählt wird die Geschichte von Meryem, die mit 13, 14 Jahren mit Naim verheiratet wurde, der dem streng islamischen Orden "Faniler" ("Die Sterblichen") angehört. In diesem fiktiven Orden, im Westen würde man auch Sekte sagen, wird von Mitgliedern absolute Treue erwartet - die Naim mit Hingabe liefert.

Der türkische Staatspräsident Erdogan beim Besuch bei der Ismailaga-Gemeinde. Die radikale Bruderschaft pflegt seit Jahren engen Kontakt zur AKPBild: ANKA

Nach dem verheerenden Erdbeben im Jahr 2023, hier wird die Serie konkret, kehren Naim, Meryem und ihre Tochter Zeynep ihrer zerstörten südostanatolischen Heimat den Rücken und ziehen in die Metropole Istanbul. Naim dient im Ordenskloster, Meryem hilft im Umfeld der Gemeinde und die Tochter Zeynep darf nur die Koranschule besuchen, keine staatliche Regelschule. Bald wird sie noch größere Probleme haben: Die Gemeinde will Zeynep mit einem Führer der Sekte verheiraten. Dieser ist in medizinischer Behandlung bei dem laizistischen Arzt Levent, der den westlichen Idealen des Staatsgründers Atatürk folgt. Diese zwei Welten, die kaum unterschiedlicher sein könnten, werden sehr realistisch gezeichnet und zeigen so ein Abbild des Landes.

Erfolg und heftige Kritik

Die Türkei ist seit Jahren tief gespalten. Unter der islamisch-konservativen AKP wurde die Kluft zwischen den erstarkten religiösen und den geschwächten säkularen Gruppen immer größer. Während die Liberalen aus dem Staatsapparat, der Justiz, Hochschullandschaft, zum Teil aus der Privatwirtschaft verdrängt wurden, bekamen viele Orden, Bruderschaften und religiös-konservative Verbände immer mehr Privilegien und erhebliche finanzielle Unterstützung. Vor jeder Wahl wird daher die Angst geschürt, dass sie diese verlieren würden, wenn es zu einem Regierungswechsel käme.

"Rote Knospen" führt das Publikum in das Innenleben der jeweils anderen Gruppe. Sie zwingt die Zuschauer, bewusster wahrzunehmen, in was für einem polarisierten Land sie leben und darüber nachzudenken, in welcher Türkei sie überhaupt leben wollen. Bereits mit der zweiten Folge erreichte sie fast sieben Millionen Zuschauer - eine beachtliche Quote in dem 85-Millionen-Einwohner-Staat.

Die Serie löste auch eine Welle der Kritik aus. Sowohl laizistisch-liberale als auch religiös-konservative Gruppen fühlten sich schlecht dargestellt. Am lautesten demonstrierten aber die islamistischen Orden und Bruderschaften. Sie mobilisierten ihre Anhänger, sodass laut Medienaufsichtsbehörde RTÜK bei zuständigen Stellen 32.000 Beschwerden eingingen.

Kurzerhand verhängte sie harte Strafen; zwei Wochen Sendepause und rund 275.000 Euro Geldstrafe gegen den Sender Fox TV wegen des angeblichen Verstoßes gegen "nationale und moralische Werte". In den Dialogen würden negative Adjektive für religiös gelesene Muslime verwendet und in einigen Szenen würden religiös-sensible Menschen herabwürdigt, so die Begründung der RTÜK.

Gelegenheit zur Machtdemonstration?

Für den Islam-Theologen Ihsan Eliacik sind die harten Strafen keine Überraschung. Denn RTÜK sei seit langem auf Regierungslinie, schreite bei solchen Fällen oft mit der Begründung ein, dass sich viele religiöse Menschen beschwerten. Häufig spreche sie Verbote aus, anschließend bestätige das Verwaltungsgericht diese, weil auch die Gerichte mit regierungsnahen Richtern besetzt seien, so Eliacik. 

Der Theologe vermutet, dass solche Fälle für die Regierung eine willkommene Gelegenheit seien, Macht zu demonstrieren - und dass sie keine Kritik am Islam dulde. Die AKP wolle signalisieren, dass in ihrer Türkei die religiösen, bärtigen und verhüllten Menschen nicht "verachtet" werden dürfen. "Diese seien jetzt an der Macht, diese seien sogar der Staat selbst, das ist die Botschaft", sagt Eliacik.

Die Türkei ist gespaltenes zwischen Atatürks Erbe - hier ein Plakat im Pop-Art-Stil - und politischem IslamBild: /AP Photo/picture alliance

Regierungspresse hetzt gegen "Rote Knospen"

Auch die regierungsnahe Presse macht Stimmung gegen die angeblich islamfeindliche Serie. Viele Zuschauer dagegen meinen, "Rote Knospen" zeige ein differenziertes Bild von Religiös-Konservativen und Säkular-Liberalen. Auch die Produktionsfirma betont, keine Pauschalisierung oder Verallgemeinerung zu beabsichtigen. "Wir wollen einerseits die verheerenden Folgen des Verhaltens von Menschen zeigen, die ihre eigenen Werte missbrauchen. Andererseits wollen wir vor Augen führen, dass gutmütige, ehrliche Menschen trotz Unterschieden eine gemeinsame Sprache finden können", erklärte die Firma.

"Auch das stört die religiösen Bruderschaften", sagt Ayse Cavdar, eine Kulturanthropologin, die sich seit Jahren mit Lebenswelten der muslimischen Milieus beschäftigt. Weil das Drehbuch solche Gruppen nicht pauschal verurteile, sondern auf das Gute und Böse in ihnen hinweise, seien sie gekränkt. Es gebe das Gute, dennoch entscheide sich mancher aus freien Stücken für das Böse. "Das verärgert diese Milieus", so Cavdar weiter. 

Am lautesten protestierte die regierungsnahe Ismailaga-Gemeinde, die in den vergangenen Jahren oft für negative Schlagzeilen sorgte - zuletzt wegen der Heirat eines sechsjährigen Mädchens mit einem religiösen Führer ihres Ordens. Der Fall löste landesweit Empörung aus. Ismailaga spricht seit Jahren eine Wahlempfehlung zugunsten von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan aus.

Zuspruch für islamistischen Orden

Laut Untersuchungen haben vier bis sechs Prozent der türkischen Bevölkerung eine Verbindung zu solchen islamistischen Orden und Bruderschaften. "Aber ihr Einfluss ist weit größer als ihre Mitgliederzahl vermuten lässt", betont die Expertin Cavdar. Dies liege daran, dass diese gut organisiert seien und enge und pragmatische Verhältnisse zur Bürokratie und Politik pflegten - und das seit mehr als 200 Jahren. 

Cavdar zufolge übernehmen Bruderschaften wie Naksibendi, zu der auch die Ismailaga-Gemeinde gehört, bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert wichtige Aufgaben im Staatsapparat. Auch in der Politik und Bürokratie habe die Zusammenarbeit eine lange Tradition, weil einige im Staat glaubten, dass solche Gruppen "nützlich" sein könnten.

Die Wissenschaftlerin erklärt, dass diese Gruppen ihre Macht nicht aus der Bevölkerung schöpften, sondern vielmehr aus ihren Beziehungen im Staatswesen. "Welchen Schaden solche Verhältnisse dem Land zufügen können, haben wir in jüngster Vergangenheit wieder gesehen", fügt sie hinzu.

Fethullah Gülen, Gründer der Gülen-Bewegung, lebt in den USA. Die türkische Regierung vermutet ihn hinter dem Putschversuch vom 2016 Bild: Hizmet/AGB Photo/imago images

Gemeint ist der Putschversuch vom 2016, hinter dem der Machtkampf zwischen der Regierungspartei AKP und der Bewegung des in den USA lebenden Predigers Gülen stand. Auch die Gülen-Bewegung hat jahrelang die AKP unterstützt und dabei den Staat unterwandert. Seit ihrer Vertreibung haben andere Bruderschaften ihren Platz übernommen, wie Medienberichte darlegen. In Ministerien, Justiz, Gesundheit, Schulwesen und Polizei seien sie jetzt schon sehr mächtig. 

Und diese privilegierte Welt darf auch keine fiktive Serie stören. Daher wollten ihre Mitglieder mit aller Kraft verhindern, dass ihre Klientel kritische Serien wie "Rote Knospen" anschauen könnten, meint die Expertin. Denn wenn die Mitglieder religiös-konservativer Milieus plötzlich anfingen, über sich und ihr Leben nachzudenken, "könnten sie begreifen, dass ihre Träume nie wahr werden", so Cavdar. "Die kritischen Stimmen sollen verstummen, damit die inneren Zirkel in Schach gehalten werden."

Mitarbeit: Pelin Ünker

Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas