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Konflikte

Rote Linien in der Politik: Sinnvoll oder kontraproduktiv?

15. Juni 2024

Von Biden bis Putin, von Xi bis Netanjahu: Immer öfter ziehen Staatschefs "rote Linien", um politischen Gegnern die Grenzen aufzuzeigen. Doch lassen die sich dadurch wirklich in Schach halten? Und was, wenn nicht?

UN, New York: Premierminister Netanjahu zeigt bei einer Rede 2012 auf eine Grafiik zum iranische Atomprogramm mit einer roten Linie
Israels Premier Netanjahu zog seine rote Linie für das iranische Atomprogramm 2012 in der UN-GeneralversammlungBild: Don Emmert/AFP/Getty Images

Im März 2024 warnte US-Präsident Joe Biden den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vor einer Bodenoffensive in Rafah: "Es kann nicht weitere 30.000 Tote auf Seiten der Palästinenser geben", erklärte er in einem Interview mit dem US-Sender MSNBC. "Das ist eine rote Linie."

Im Februar 2023 richtete EU-Außenminister Josep Borrell eine Drohung an China: Sollte Peking Moskau Waffen für Russlands Angriffskrieg in der Ukraine liefern, wäre für die EU eine rote Linie überschritten. Ähnlich bezeichnete Wladimir Putin kurz vor Beginn des Krieges eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Und für Chinas Staatschef Xi Jinping liegt die öffentlich formulierte Toleranzgrenze bei einer formellen Unabhängigkeitserklärung Taiwans.  

Die israelischen Offensive in Rafah trieb tausende Palästinenser in die FluchtBild: Abdel Kareem Hana/AP Photo/picture alliance

Besonders plastisch, nämlich mit einem Filzschreiber, zog Benjamin Netanjahu einst seine rote Linie im Atomstreit mit dem Iran. Im September 2012 warnte der israelische Premier in der UN-Vollversammlung davor, dass Teheran kurz vor der Fertigstellung der Atombombe sei und unterstrich dies mit einer Grafik, in der er die Schwelle einzeichnete, die keinesfalls überschritten werden dürfe.

Alarmsignal für die bestehende Weltordnung

Tatsächlich hat das Ziehen roter Linien in der Internationalen Politik in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Einer Analyse der US-amerikanischen Datenjournalismus-Seite "Smart Politics" zufolge hatten nur zwei US-Präsidenten vor Barack Obama jemals öffentlich davon gesprochen. Obama selbst nutzte das Stilmittel dann weitere elfmal - besonders bekannt ist seine Warnung an Syriens Machthaber Baschar al-Assad vor einem Giftgaseinsatz im syrischen Bürgerkrieg.

Für die Konfliktforscherin Anne Holper von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder ist das zunehmende Ziehen roter Linien vor allem Ausdruck dafür, dass sich die geopolitischen Machtverhältnisse immer stärker verschieben. Gemeinsam mit ihrer Schweizer Kollegin Dana Landau von der Universität Basel hat sie hierzu ein Forschungsprojekt initiiert. Holper zufolge signalisieren Hegemonialmächte mit dem Ziehen roter Linien vor allem: "Hier ist für uns die Grenze erreicht, die nicht überschritten werden darf, damit unser Ordnungssystem erhalten bleibt."

Ukrainische Soldaten in Charkiw. In der Ukraine werden derzeit die neuen Grenzen der künftigen Weltordnung ausgelotetBild: Stringer/REUTERS

Ein Giftgaseinsatz in Syrien, eine mögliche Atombombe in Händen Teherans oder der russische Einmarsch in der Ukraine waren alles Tabubrüche, die eben diese Weltordnung in ihren Grundfesten erschütterten. "Wann immer sich eine stabil glaubende Ordnung herausgefordert fühlt, wird am ehesten eine rote Linie gezogen, weil dann die Empörung am größten ist," konstatiert die Konfliktforscherin. "Da fühlt man sich am meisten herausgefordert und genötigt, ein Zeichen von maximaler Drohwirkung setzen zu müssen, angesichts dessen das Gegenüber nicht wagt, noch einen Schritt weiter zu gehen."

Abschreckungsbluff mit Nebenwirkungen

Dazu gehört oft auch die Androhung schwerer Konsequenzen. Wie diese genau aussehen sollen, bleibt jedoch oft nur vage. "Die Intention ist Abschreckung", sagt Anne Holper. "Eigentlich immer." Im Grunde handele es sich um einen politischen Bluff. Der jedoch ein Dilemma nach sich zieht: "Man möchte gar keine schwere Sanktion durchführen, die aber folgen muss, wenn die Überschreitung stattfindet."

Auch Joe Biden hat offen gelassen, wie exakt die Reaktion der USA auf eine israelische Bodenoffensive in Rafah ausfallen könnte; gedroht wurde lediglich mit einer "Reduktion der Militärhilfe" für Israel. Kurze Zeit später ruderte Washington rhetorisch bereits zurück - wohl auch, um nicht in Zugzwang zu geraten: "Die USA glauben nicht, dass Israels Handlungen in Rafah eine 'große Bodenoperation' darstellen, die eine rote Linie für Präsident Joe Biden überschreiten", hieß es aus dem Weißen Haus.

Musste rhetorisch bereits zurückrudern: US-Präsident Joe BidenBild: Elizabeth Frantz/REUTERS

Für Anne Holper ist das Ziehen roter Linien deshalb "ein paradoxes Instrument: Man möchte eigentlich gar nicht so weit gehen, wird dann aber vom Kontrahenten dazu gezwungen, wenn er diese Linie doch überschreitet." Hat dies aber keine oder nur schwache Konsequenzen, "dann erlebt man selbst einen Glaubwürdigkeits- und Machtverlust, der womöglich viel gravierender ist als der durch die eigentliche Überschreitung": Eine nicht in die Tat umgesetzte Drohung wird als Durchsetzungsschwäche wahrgenommen.

Kampf gegen Grenzverschiebungen

Anne Holper ist Konfliktforscherin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/OderBild: privat

Warum aber werden dann trotzdem immer wieder rote Linien gezogen? Weil die Machtverteilung auf der Welt sich gerade fundamental ändert und es deswegen in hocheskalierten Situationen kein Mittel mehr gibt, das unmissverständlich von allen Beteiligten als "Bis hierhin und nicht weiter“ akzeptiert werden würde. Das Aufstreben Russlands, Chinas und einiger Staaten des globalen Südens sorgt dafür, dass die bisherige Weltordnung in Frage gestellt und die Grenzen des Machbaren neu ausgelotet werden, erklärt Anne Holper.

Vor allem Mächte, die darauf aus sind, die bisherige Weltordnung zu bewahren, wollen ein "Durchlöchern von Grenzen" verhindern, "weil man weiß: Wenn das jetzt einer macht, dann machen das danach ganz viele. Dann überrollen die uns irgendwann mit dieser neuen Ordnung und den neuen Regeln, die sie einfach etablieren."

Gleichzeitig aber sorgt eben diese Machtverschiebung dafür, dass diese Grenzen nicht mehr immer und überall konsequent zu halten sind. Zudem zeigen sie dem Gegenüber, bis zu welchem Grad Tabubrüche gerade noch so toleriert werden. Und zu welchen Gegenmaßnahmen man selbst bereit wäre - aber auch, zu welchen eher nicht.

Aus Sicht der Konfliktforschung sei es daher nicht klug, rote Linien öffentlich zu machen, um sie als Abschreckungsmechanismus zu benutzen: "Weil es in der Regel unmöglich ist, die Abschreckung so zu formulieren und zu kommunizieren, dass man ausschließen kann, das sie einen nachträglich ungewollt unter Zugzwang setzt." So kann man leicht auch in eine eigentlich ungewollte Eskalation hineingezogen werden. "Deswegen lieber 'Finger weg!‘", rät Anne Holper.

Rote Linien besser nach innen

Dabei seien Rote Linien gar nicht notwendig, um eine klare Grenze zu ziehen und zu sagen: 'Das sind unsere Regeln, und die verteidigen wir', so die Konfliktforscherin weiter. "Wie genau man diese Regeln und Grenzen so formuliert, dass sie respektiert werden, hängt von den Hebeln ab, über die man im jeweiligen Kontext verfügt." Deutlich sinnvoller sei es auch, in der internen Kommunikation, etwa zwischen alliierten Mächten oder Streitkräften für sich selbst rote Linien zu ziehen, ab wann wie gehandelt werden muss, diese aber nicht nach außen zu kommunizieren.

"Besser Einigkeit demonstrieren als öffentlich rote Linien ziehen": Außen- und Justizminister zahlreicher Ukraine-Unterstützerländer bei einer Konferenz in Den HaagBild: Valerie Kuypers en Martijn Beekman

Nach außen hingegen, rät Anne Holper, sollte die Kommunikation möglichst flach gehalten werden, um eine Eskalation zu verhindern. Jeder wisse sowieso, erklärt sie am Beispiel des Ukraine-Kriegs, dass eine eklatante Grenzüberschreitung seitens Russlands nicht toleriert würde. "Besser wäre es, alle NATO- und EU-Verbündeten träten vereint auf und sprächen tatsächlich mit einer Stimme, so dass klar ist: 'Okay, da kommen wir nicht gegen an, die können wir nicht spalten. Und sie lassen sich auch nicht zu überstürzten Gegenschlägen hinreißen.‘ Aber sie stehen gemeinsam dafür ein, dass sie ihre Werte verteidigen."

Thomas Latschan Langjähriger Autor und Redakteur für Themen internationaler Politik