"Syrien braucht humanitäre Offensive"
10. August 2012Deutsche Welle: Tausende Syrer sind auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg und verlassen ihre Heimat. In Jordanien sollen mehr als 150.000 Syrer Zuflucht gefunden haben, in der Türkei um die 50.000. Frau Roth, Sie haben in den vergangenen zwei Tagen das syrisch-türkische Grenzgebiet besucht. Welche Eindrücke bringen Sie mit?
Claudia Roth: Ich habe gehört, was Menschen auf der Flucht erlebt haben und was Menschen an Gewaltsituationen erleben mussten: Väter, die ihre Töchter verloren haben, Kinder, die Angst haben um ihre Eltern, Menschen, die Angst haben wegen dem, was in Syrien passiert. Ich habe auch ein Aufnahmeland Türkei erlebt, das mit 50.000 Menschen in den Flüchtlingslagern zeigt, was nachbarschaftliche und humanitäre Hilfe bedeutet. Die Zahl 50.000 betrifft nur die Menschen, die in Flüchtlingslagern aufgenommen worden sind. Weit mehr sind in Privatunterkünften untergekommen. Etwa 300.000 Menschen sind inzwischen außerhalb des Landes, aber die Situation von über eineinhalb Millionen Menschen innerhalb Syriens scheint sich dramatisch zuzuspitzen. Sie brauchen dringend humanitäre Hilfe, sie brauchen Nahrungsmittel, sie brauchen medizinische Versorgung, sie brauchen Wasser. Und sie brauchen eine internationale Gemeinschaft, die nicht diverse Interessen auf dem Rücken der syrischen Bevölkerung austrägt.
Es ist ja nun davon auszugehen, dass sich der Bürgerkrieg hinziehen wird. Haben die Flüchtlingslager in den Nachbarländern Syriens denn genügend Versorgungskapazitäten, einen weiter andauernden Flüchtlingsstrom aufzunehmen?
Ich glaube, man sollte den Aufnahmeländern anbieten, dass auch Länder wie die Bundesrepublik Deutschland bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, wenn die Menschen zu uns kommen wollen. Es gibt auch in Deutschland viele Menschen, deren Wurzeln in Syrien sind, die arabisch sprechen und ich glaube, es gibt eine große Bereitschaft zu sagen: Ja, wir sind auch in einer Verantwortung gegenüber Menschen, die Schutz brauchen. Gerade in den letzten Tagen hat durch die Eskalation der Gewalt in Aleppo die Zahl der Flüchtlinge zugenommen, die versuchen sich in Sicherheit zu bringen. Da braucht es mehr als schöne Worte. Da braucht es klare Angebote an die Länder Türkei, Jordanien und den Libanon.
Halten Sie es für möglich, dass es doch noch eine politische Lösung geben könnte, vielleicht unter dem neuen UN-Sondergesandten? Da ist mit Lakhdar Brahimi ein durchaus erfahrener Krisendiplomat im Gespräch.
Die Tragödie Syriens ist, dass es eine Internationalisierung des Konflikts gibt. Ich will sagen, dass es sehr, sehr unterschiedliche Interessen gibt, sei es nun von Russland, von China, vom Iran, von Saudi-Arabien, von Katar, von der Türkei, von den USA. Unterschiedliche Interessen, die auf dem Rücken der Syrer ausgetragen werden. Es geht darum, dass sich die internationale Gemeinschaft zusammensetzt mit dem klaren Ziel, eine Architektur aufzubauen, die nach Assad ein neues Syrien begründen kann, die das Morden beenden kann. Ich glaube, es ist der falsche Weg, mehr Waffen ins Land zu liefern. Syrien braucht eine humanitäre Offensive, und nicht Waffen oder gar Söldner, wie ich es erlebt habe. Zum Beispiel in der türkischen Provinz Hatay. Die kamen aus ganz unterschiedlichen Ländern, sei es Tschetschenien, Libyen oder auch Bangladesch. Diese Söldner haben sicher nicht die Demokratie im Auge. Sondern sie versuchen möglicherweise, in Syrien ihre Form eines Gottesstaates zu errichten. Da braucht es für einen neuen Gesandten endlich eine internationale Gemeinschaft, die an einem Strang zieht und die nicht gegeneinander unterschiedliche Interessen ausspielt. Andernfalls könnte es zu einer Eskalation kommen mit religiös-ethnischen Konflikten. Es könnte einen Flächenbrand geben, der sich auf die ganze Region ausbreitet und das wäre verheerend.
Es sind also nicht alleine die letzten verbliebenen Unterstützer Syriens, Russland, China und der Iran, sondern es ist die internationale Gemeinschaft, die nun etwas tun muss?
Ja, alle sind in der Pflicht. Für mich sind Saudi-Arabien oder Katar kein Paradebeispiel für Demokratie oder religiöse Toleranz. Die Saudis und Katar vertreten die Interessen der Sunniten, so wie der Iran die Interessen der Schiiten vertritt. Wenn der Konflikt weiter eskaliert, dann bekommen wir eine ganz neue Form von religiösen Auseinandersetzungen und Konfrontationen, die sich auch auf den Irak oder die Türkei auswirken können. Ich glaube, es braucht sehr schnell eine Konferenz, wo sich alle Beteiligten an den Tisch setzen. Auch unter Einbeziehung des Iran. Es wäre zu einfach zu sagen, nur Russland oder China oder der Iran haben den Schwarzen Peter. In den anderen Ländern gibt es genügend Interessen, beispielsweise auch durch die Söldner, die entsandt worden sind, einen Gottesstaat zu errichten. Davor muss man die Syrer schützen, die ja genau das wollten, was andere arabische Staaten auch wollten, nämlich einen arabischen Frühling. Einen Frühling, der Demokratie bringt nach 40 Jahren Diktatur.
Claudia Roth ist die Vorsitzende der Grünen und hat am 9. August 2012 das syrisch-türkische Grenzgebiet besucht.
Das Interview führte Sabine Hartert-Mojdehi.