Ist Rotkäppchen ein kleines, unschuldiges Mädchen? Offenbar erst seit den Gebrüdern Grimm. Davor kokettierte sie schon mal mit jugendlichen Charme und ließ sich vom Wolf verführen. Eine Begegnung mit vielen Rotkäppchen.
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Rotkäppchen - eine Märchenfigur zwischen Unschuld und Erotik
Ist Rotkäppchen nur ein kleines, naives Mädchen? Erst seit den Märchen der Gebrüdern Grimm. Davor kokettierte mit jugendlichen Charme und ließ sich sogar vom Wolf verführen. Eine Begegnung mit mehreren Rotkäppchen.
Bild: Bilderbuchmuseum Burg Wissem/DW/L. Albrecht
Deutsche Romantik
Rotkäppchen war nicht immer ein blondes, unschuldiges Mädchen. Und es ist auch viel älter als in der Geschichte der Märchensammler Gebrüder Grimm. Selbst das Happy End, dass alles gut ausgeht, wurde erst in der deutschen Rotkäppchen-Fassung erfunden. Begonnen hat Rotkäppchens Geschichte aber in Frankreich...
Bild: Bilderbuchmuseum Burg Wissem/DW/L. Albrecht
Der französische Wolf als Verführer
"Viens te coucher avec moi", lädt der Wolf Rotkäppchen in sein Bett ein. Sie zieht sich aus und folgt - nackt - seinen Worten. Eine klare sexuelle Anspielung. Charles Perrault schrieb die Erzählung vom "petit chaperon rouge" 1697 zum ersten Mal nieder, die Kupferstiche kamen von Gustave Doré. Damals wurde die Geschichte so bei Hofe erzählt, als Abschreckung vor männlicher Verlockung.
Bild: Gemeinfrei
Little Red Riding Hood
Die Geschichte vom koketten französischen Rotkäppchen wurde 1729 auch ins Englische übernommen. Auch hier gibt es kein Happy End - Rotkäppchen und seine Großmutter werden vom Wolf verschlungen, und das war's: Kein Jäger, keine Rettung. Typisch für die englische Fassung ist, dass sich das "little red riding hood" in einen roten Reitermantel hüllt und nicht nur ein rotes Käppchen trägt.
Bild: Bilderbuchmuseum Burg Wissem/DW/L. Albrecht
Rotkäppchen mit Happy End
Das erste deutsche Rotkäppchen kam nicht von den Gebrüdern Grimm, sondern vom Schriftsteller Ludwig Tieck. Dem Romantiker gefiel das düstere Ende der französischen Version nicht und so dichtete er den Jäger als Retter in das Märchen. Erst die Gebrüder Grimm machten aus Rotkäppchen im Jahr 1812 ein unschuldiges, kleines Mädchen. Sexuelle Anspielungen sollten unbedingt vermieden werden.
Bild: Bilderbuchmuseum der Burg Wissem in Troisdorf
Rotkäppchen macht Karriere
Rotkäppchen wird in Deutschland und in ganz Europa schnell zum Kassenschlager. Seine Geschichte wurde auf Postkarten versandt oder auch in Gesellschaftsspielen nachgeahmt. Bis heute ist das kleine süße Mädchen mit der roten Mütze Werbegesicht und Markenname für Sekt, Käse oder Schokolade.
Bild: Bilderbuchmuseum Burg Wissem/DW/L. Albrecht
Eigensinn und Widerstand
Bis heute ist das Rotkäppchen-Thema nicht aus der Mode - und wird immer wieder umgedeutet. Geoffroy de Pennart macht in seinem Kinderbuch "Rothütchen" aus ihm ein widerspenstiges Mädchen, das gegen den Wolf sogar handgreiflich wird. Dahinter steckt ein modernes Kinderbild: nicht mehr zu Gehorsam, sondern zu Eigensinn und Selbstbewusstsein sollen die Kinder erzogen werden.
Bild: Bilderbuchmuseum der Burg Wissem in Troisdorf
Das gewaltfreie Märchen
Nicht so in den 1980er Jahren. Damals war gewaltfreie Erziehung sehr in Mode. Daher fraß der Wolf Rotkäppchen in einer zeitgenössischen Version nicht blutrünstig auf, sondern kontrollierte sie lediglich mit einer Schlinge um den Fuß. Wie hier in dem "Le Petit Chaperon Rouge" Buch von Laurence Batigne und Bruno de la Salle.
Bild: Bilderbuchmuseum Burg Wissem/DW/L. Albrecht
Der Wolf als Sexobjekt
In den 1990er Jahren ging es wieder in die andere Richtung: Eine solch drastische Rotkäppchen-Phantasie wie von Bettina Bayerl ("Keine Gnade!",1993) ist heutzutage wieder möglich: Rotkäppchen zugespitzt und obszön. Der sexualisierte Ursprung der französischen Geschichte ist also nie ganz abhanden gekommen.
Bild: Bilderbuchmuseum Burg Wissem/DW/L. Albrecht
Rotkäppchen wird zum Wolf
In Burgi Kühnemanns Version wird Rotkäppchen zum Täter und fährt den vom Aussterben bedrohten Wolf einfach über den Haufen. Kühnemann ist Buchkünstlerin und arbeitet auch mit Fabeln. In einer anderen Version zieht sie Parallelen zwischen Rotkäppchen und Hitler. Er habe sich gern "Onkel Wolf" nennen und sich - ähnlich wie im französischen Märchen - in seiner Männlichkeit anbeten lassen.
Bild: Bilderbuchmuseum Burg Wissem/DW/L. Albrecht
Rotkäppchen, mal abstrakt
Die Rotkäppchen-Geschichte gibt´s auch ganz ohne Wertung. Die Künstlerin Warja Honegger-Lavater stellte die Geschichte in den 1960er Jahren nur mit Punkten dar. Durch die Abstraktion ließ sie alle möglichen und unmöglichen Phantasien über Rotkäppchen zu und macht das Märchen so kultur- und altersübergreifend gültig.
Bild: Bilderbuchmuseum der Burg Wissem in Troisdorf
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Rotkäppchen hat mich immer abgeschreckt. Das Märchen von diesem kleinen, dummen Mädchen, das sich dem Wolf zum Fressen ausliefert. Und dann auch noch der männliche, mutige Retter, der Jäger als Held, der die blonde Unschuld und ihre Großmutter wieder aus dem Wolfsbauch schneidet. Und beide steigen mit bestechender Unlogik quietschlebendig und vollkommen heil aus seinen Gedärmen.
Die Gebrüder Grimm schienen diese Ungereimtheiten nicht zu stören. Ihnen ging es ja auch um die Abschreckung. Sie wollten den Kindern mal richtige Manieren beibringen: Hör auf deine Mutti, sein brav und traue keinem Fremden. Heute würde man das Xenophobie und Feigheit nennen. Doch als ich von dieser Ausstellung hörte - nur über Rotkäppchen! - wurde ich neugierig. Was kann hinter diesem blonden Mädel stecken, das ganze Vitrinen füllt?
Das Bilderbuchmuseum in Troisdorf, ein rot gestrichenes, burgähnliches Herrenhaus in dem sonst eher trostlosen Örtchen bei Bonn, besitzt die reichste Rotkäppchen-Sammlung Europas. Auf zwei Etagen leben hier etliche Rotkäppchen nebeneinander. Unten im Erdgeschoß: der Spielewald für Kinder.
Durch den Türspalt sehe ich noch ein Kind als Rotkäppchen pfeifend durch die Pappbäume spazieren. Die Treppe hoch wohnen die Rotkäppchen für Erwachsene. Hier gibt es keinen künstlichen Wald, sondern - ganz seriös und wenig originell - nur Schaukästen mit Büchern und Bilder an den Wänden. Aber in jeder Vitrine begegnet ein anderes Rotkäppchen einem anderen Wolf - nicht alles jugendfrei.
Diese Sammlung, so erzählt mir stolz Bernhard Schmitz, der Kurator der Ausstellung, wurde dem Bilderbuchmuseum von einem Schweizer Sammlerehepaar vermacht. Dreißig Jahre lang staubten Elisabeth und Richard Waldmann überall die unterschiedlichsten Rotkäppchen ab. Sie horteten allein 800 Bücher, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geschrieben wurden. Außerdem sammelten sie Puppen, Spiele, Geschirr, Werbung, und eine ganze Menge Kitsch. Wie kann man so besessen von einer Märchenfigur sein?
Das vielgesichtige Rotkäppchen
Als ich die hölzernen Schaukästen nach dem Rotkäppchen durchsuche, das ich kenne - dem süßen, dummen Mädchen - merke ich, dass da noch andere Rotkäppchen neben ihr sitzen. Eines mit entblößtem Busen. Eins mit Irokesenschnitt, ein anderes lüstern und eines sogar boshaft. Das Mädel hat offenbar viele Gesichter.
Das erste, das französische Rotkäppchen, "Petit Chaperon Rouge", war kein kleines, unschuldiges Kind, sondern pubertär. Es gefiel ihm wohl, den Wolf zu reizen. Und auf dessen Einladung: "Viens te coucher avec moi", zog sich die junge Dame aus und legte sich bereitwillig - und nackt - neben den verführerischen Wolf ins Bett. Pure Koketterie. Mein Blick fällt auf ein modernes Comic aus den 1990er Jahren - Rotkäppchen als reine Sexgeschichte, das Märchen derb und verkommen. Das Sexuelle ist trotz der prüden Gebrüder Grimm offenbar nicht abhanden gekommen.
Ein Raum des Bilderbuchmuseums ist allein der Künstlerin Burgi Kühnemann und ihren sehr eigenen Rotkäppchen gewidmet. Sie steht vor einem ihrer Werke - einer Jägerweste mit zahlreichen Taschen, gefüllt mit Büchlein und Leporellos. "Der Wolf ist ein Opfer des Autoverkehrs" steht auf dem schmutziggrünen Stoff. Burgi Kühneman holt ein Büchlein aus der rechten Brusttasche. Darin sitzt ein jugendliches Rotkäppchen hinterm Steuer, drauf und dran den Wolf mit dem Auto umzufahren.
"Da war mal 'ne Reportage über den Wolf, der auf der Autobahn überfahren worden ist. Da hab' ich gedacht, früher wurde der Wolf gefürchtet, heute wird er ausgestopft." Burgi Kühemanns Stimme ist rau und etwas gedrückt. Aber sie redet gern. Und eröffnet mir gleich ihre nächste Rotkäppchen-Version: "Ich arbeite das auch in politische Dimensionen um. Zum Beispiel die Nazi-Zeit, die gibt sehr viel her. Der Adolf, der ließ sich von kleinen Mädchen Onkel Wolf nennen. Und das ist ja schon eine Dimension, die alleine schon..." Schockiert, wollte sie wohl den Satz beenden, doch da waren ihre Gedanken schon beim nächsten Rotkäppchen - vielleicht bei dem, das sich nackt und selbstverliebt im Spiegel betrachtet.
Das berühmte Rotkäppchen, dieses blonde, kleine und naive ist also nur eines von vielen rotbekappten Mädchen. Und es ist die deutsche Version, die abgebrühte und kleinkindliche. Ich gehe noch einmal vorbei an den unterschiedlichen Schaukästen. Letzten Endes ist Rotkäppchen schizophren.