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Gesellschaft

Ruandas "vergessene Opfer"

Eva de Vries
10. August 2017

23 Jahre nach dem Völkermord wird Ruanda für Erfolge bei der Aufarbeitung des Verbrechens gelobt. Doch über diese Opfer wird noch viel zu selten geredet: Kinder, die damals durch Vergewaltigung gezeugt wurden.

Born of Rape Ruanda Afrika
Annonciata und ihr Sohn PaulinBild: DW/E. de Vries

Während des Genozids in Ruanda 1994 wurden laut Schätzungen 250.000 bis 500.000 Frauen vergewaltigt. Tausende Kinder gingen aus diesen brutalen Übergriffen hervor. Wie viele es genau sind, weiß niemand. "Vergewaltigung ist nach wie vor ein Tabu-Thema hier", erklärt Samuel Munderere vom Survivor Fund (SURF), einer Hilfsorganisation, die Opfer von Missbrauch und Vergewaltigung unterstützt. "Viele Frauen haben nie über ihre Erlebnisse gesprochen. Mit einer Schwangerschaft wird das Schamgefühl noch größer." Unterdessen wachsen die Jungen und Mädchen in einem traumatisierten Land auf, in einer Gesellschaft, die sie als "Kinder von Mördern" sieht - statt als Opfer.

Mit HIV infiziert

"Ich weiß nicht, wie viele damals über uns hergefallen sind. Ich konnte den Tag nicht von der Nacht unterscheiden. Es gab kein Entkommen", erinnert sich Annonciata mit Tränen in den Augen. Wir sitzen in ihrer kleinen Lehmhütte in Kiyoyu, einem verarmten Viertel in der Hauptstadt Kigali. Über drei Monate hinweg wurde sie damals jeden Tag vergewaltigt. Truppen der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) retten sie schließlich und Annonciata erfährt, dass sie nicht nur HIV-positiv ist, sondern auch schwanger. "Als ich meinen Sohn zum ersten Mal sah, konnte ich nicht aufhören zu weinen. Warum hat dieses Kind überlebt, während meine ganze Familie ermordet wurde?"

Heute ist ihr Sohn Paulin 22 Jahre alt. Er bringt seiner Mutter heißen Tee. "Wir stehen uns heute sehr nahe, aber das war nicht immer so", sagt er. Als er ein kleiner Junge war, habe er oft nach seinem Vater gefragt, aber seine Mutter sei ihm ausgewichen. "Aber ich konnte nicht ewig schweigen", sagt Annonciata. Wie sie, spricht auch Paulin nicht gerne über die Vergangenheit. "Ich tue einfach so, als wäre nichts passiert und konzentriere mich ganz auf die Zukunft", sagt er. Seine Freunde kennen die Wahrheit nicht. Paulin hat Angst, sie könnten sich über ihn lustig machen.

Vergessene Opfer

Frauen wie Annonciata bekommen wenig Unterstützung. Mutig ziehen sie ihre Kinder in Armut groß. "Diese Kinder wachsen oft mit einer Identitätskrise auf", erklärt Samuel Munderere von der Hilfsorganisation SURF. In Ruandas patriarchalischer Gesellschaft werden die Jugendlichen plötzlich mit der Tatsache konfrontiert, dass ihr Vater - wo auch immer er sein mag - ein Täter des Genozids ist. Darüber hinaus kann die Beziehung zur Mutter sehr kompliziert sein. "Die Frauen wollten diese Babys nicht. Manche haben es sogar geschafft, die Schwangerschaft selbst abzubrechen, andere haben versucht, ihre Kinder nach der Geburt zu töten."

Diese Kinder werden auch die "vergessenen Opfer" genannt. Und weil viele von ihnen nach 1994 geboren wurden, haben sie keinen Anspruch auf Hilfen der Regierung für Genozid-Opfer. Die Helfer von SURF versuchen, die Kinder mit psychologischer Betreuung, Zuschüssen zum Schulgeld oder zu Geschäftsideen zu unterstützen.

Eugenie und ihr Sohn Jean-BaptisteBild: DW/E. de Vries

"Ich war immer so wütend"

Eugenie ist eine Freundin von Annonciata, die beiden Frauen kennen sich aus der Selbsthilfegruppe. Eugenie lebt in Kimisagara, einem belebten Viertel auf einem Hügel über der Stadt. Als ihr Mann 1994 getötet wird, sucht sie Zuflucht in einer Schule. Die Hutu-Milizen - die 'Interahamwe' - machen damals mit Macheten Jagd auf Tutsi. "Sie haben meine Arme und Beine gefesselt, mir die Augen verbunden und mich vergewaltigt", erinnert sich Eugenie. Ihre Stimme zittert, Tränen laufen über ihre Wangen.

Als ihre Periode ausfällt, weiß Eugenie, dass sie schwanger ist. "Ich hatte große Panik, das Baby könnte aussehen wie er", sagt sie. Im Frühjahr 1995 bringt sie einen gesunden Jungen zur Welt, Jean-Baptiste heißt er. Eugenie fühlt damals plötzlich Erleichterung: "Er sah aus wie ich! Von diesem Moment an wusste ich, dass ich damit leben kann."

Trotzdem, einfach war es nicht für Mutter und Sohn. Vor ein paar Jahren hat Eugenie ihrem Jungen die Wahrheit gesagt. "Ich war immer so wütend auf sie", sagt der 22-jährige Jean-Baptiste. "Aber jetzt verstehe ich, wie schwierig das alles gewesen muss."

Nadia, Asimine und Baby NoellaBild: DW/E. de Vries

Von der Familie verstoßen

Am nächsten Tag treffe ich Nadia, ihre Tochter Asimine und Baby Noella in ihrem Steinhaus auf einem Hügel umgeben von Bananen-Plantagen. Während des Genozids wurde Nadia mehrfach vergewaltigt, sogar vor den Augen ihrer Eltern. "Wenn ich darüber nachdenke, dann spüre ich die Schmerzen noch heute." Nadia hat viel Zeit gebraucht, um die schrecklichen Ereignisse von damals zu verarbeiten. "Ich konnte meinen Eltern nicht mehr in die Augen sehen."

Neun Monate später kam Asimine zur Welt. "Jahrelang habe ich sie geschlagen. Ich konnte ihre Anwesenheit einfach nicht ertragen", sagt Nadia. Ihre Eltern, die den Völkermord auch überlebt haben, wollten das Mädchen nicht akzeptieren und sie nicht mehr sehen. "Für sie ist Asimine ein uneheliches Kind, obwohl sie mit eigenen Augen gesehen haben, wie ich vergewaltigt wurde."

Für Asimine war es schwer, ohne Vater aufzuwachsen. "Meine Klassenkameraden hatten alle einen, aber ich nicht. Sie haben mich gehänselt", sagt sie im Flüsterton, den Blick auf den Boden gerichtet.

Kleines Einkommen: Nadia verkauft die Milch ihrer KuhBild: DW/E. de Vries

Heilende Wunden

Trotz ihres Traumas haben die Frauen dafür gekämpft, gesunde, erfolgreiche Kinder groß zu ziehen. Paulin will bald seinen Abschluss in Computer-Technologie machen. "Und natürlich hoffe ich, dass ich irgendwann Enkelkinder bekomme", sagt Annonciata mit einem Lächeln. Auch Eugenie ist offensichtlich stolz auf ihren Sohn, der davon träumt eine eigene Schweinezucht aufzubauen. "Mein Junge versucht alles, damit es uns besser geht", sagt sie. Auf dem Hügel mit den Plantagen ist Nadia weniger optimistisch. Sie freut sich, dass sie inzwischen ein Enkelkind hat, aber wünscht sich auch dass ihre Tochter Asimine Arbeit findet. Immerhin: Die Helfer von SURF haben der kleinen Familie eine Kuh geschenkt und Nadia verkauft jetzt Milchshakes.

"Die Wunden werden heilen, Schritt für Schritt, Tag für Tag", hofft Annonciatas Sohn Paulin. Aber es liegt noch ein weiter Weg vor ihnen.

Um die Identität der Interviewpartner zu wahren, wurden hier nur die Vornamen genannt.

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