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Musik

Ruhrtriennale präsentiert Marthalers "Universe, incomplete"

Sabine Peschel
18. August 2018

Ein großes Kunstwerk, in dem alles abgebildet ist – daran arbeitete einst der amerikanische Komponist Charles Ives. Das Werk wurde nie vollendet. Jetzt nahm sich der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler des Themas an.

Uraufführung Universe, Incomplete in der Jahrhunderthalle Bochum
Bild: Walter Mair/Ruhrtriennale 2018

Das Universum ist unendlich. Aber ist es auch vollständig? Wo menschliches Denken in Grenzbereiche gerät, hat Charles Ives (1875-1954) seine Musik angesiedelt. Lebenslang hat den amerikanischen Komponisten das Projekt einer "Universe Symphony" beschäftigt, einer Sinfonie, die das gesamte Universum musikalisch abbilden sollte, das menschliche Leben mitsamt der Vergangenheit und in all seinen wesentlichen Aspekten, so, als würde man aus der Zukunft auf diese Existenzformen zurückblicken. Ives war klar, dass ein solches Unterfangen utopisch war. Als er 1954 starb, war sein Werk Fragment geblieben. 

Christoph Marthaler wagt den Versuch

"Für den Fall, dass es mir nicht gelingen sollte, dieses Werk zu vollenden", hatte Ives hinterlassen, "findet sich vielleicht jemand anderes, der den Versuch unternimmt, meine Gedanken auszuarbeiten. Es könnte sein, dass die von mir erstellten Skizzen viel mehr Sinn ergeben, wenn man sie aus der Perspektive von jemandem betrachtet, der nicht ich selbst bin." Dieser Jemand ist nun Regisseur Christoph Marthaler, der als "Artiste associé" der Ruhrtriennale unter Intendantin Stefanie Carp verbunden ist. 

Christoph MarthalerBild: picture-alliance/dpa/M. Kusch

"Universe, incomplete". Der Titel, unter dem Regisseur Christoph Marthaler am Freitagabend (17.08.2018) Charles Ives' Musik in die Bochumer Jahrhunderthalle brachte, gesteht den immanenten Widerspruch nicht nur des Anspruchs, sondern auch des Gedankens an sich ein. Er inszeniert die zweieinhalb-stündige Musikcollage als Utopie, als Ringen um Annäherung und in ergreifenden Bildern menschlicher Kommunikationsversuche.

Ein besonderer Ort 

Die 1902 erbaute Bochumer Jahrhunderthalle liegt im Stadtteil Stahlhausen - ein Relikt des Industriezeitalters, als im Ruhrgebiet noch das stählerne Herz Europas schlug. Inzwischen ist sie längst umfunktioniert als Veranstaltungsort für Konzerte, Jahrmärkte und hochkulturelle Inszenierungen. Riesig und unüberschaubar mit ihren Trägerkonstruktionen, Brücken und Treppen, erscheint sie fast unbespielbar für ein musikalisches Theater, bei dem es um Nuancen geht. 

150 Musiker stellten sich dieser Herausforderung. Ein Jahr lang haben die darstellenden Künstler mit den Bochumer Symphonikern, den Musikern des "Rhetoric Project" und dem "Schlagquartett Köln" geprobt. Das raumakustische Konzept nutzt alle Höhen und Tiefen der riesigen Halle - mal sitzen die Perkussionisten auf einer der Stahlbrücken, mal kommt die Blaskapelle über eine Treppe aus dem Untergrund, meist sitzt das große Symphonieorchester unsichtbar in der Seitendekoration. Dirigent Titus Engel schafft es so, die Halle, in der das Publikum steil gestaffelt wie auf der Tribüne einer Sportveranstaltung sitzt, mit  Klängen zu füllen, die immer präzise blieben, seien sie voluminös oder fein oder auch kaum noch hörbar. 

Relikt aus einer anderen Zeit: Die Jahrhunderthalle Bochum Bild: JU/Ruhrtriennale

Musikalische Collage 

Nur wenige Teile der "Universe Symphony" von Charles Ives sind erhalten. Christoph Marthaler, selbst auch Musiker, und Titus Engel haben sie ergänzt durch Sätze aus den vier Symphonien von Charles Ives, durch Lieder, ein Klavierstück und einen Satz aus einem Streichquartett. Dazwischen setzen immer wieder Musikstücke, die nicht von Ives stammen, humorvolle Kontraste: Kirchenlieder, Anklänge an die Musik der "Marching Bands", die früher durch amerikanische Städte zogen, oder sentimentale Kaffeehaus-Schlager. 

Das sparsame Bühnenbild von Anna Viebrock, seit 30 Jahren engste künstlerische Begleiterin von Christoph Marthaler, schafft ein optisches Pendant zu den Weiten des Klangs. Hier eine Tribüne, dort ein paar Reihen Kirchenbänke, im Hintergrund ein unendlich langer Tisch, an der Seite eine neckische, rosa und hellblau gestrichene Brücke und zwei Bänke. In diesem raumbietenden Bild bewegen sich die Darsteller lange wie in Zeitlupe, gedämpft und mit kaum erträglicher Intensität. Wenn sie sprechen, sagen sie poetische Sätze wie, "Ich komme von einem anderen Stern", behaupten, es wüchse ihnen ein Pilz im Nacken und die Füße seien im Boden verwurzelt. "Mein Herz aber schlägt." 

Begeisterter Schlussapplaus in BochumBild: Ruhrtriennale/S. Peschel

Der melancholische Grundton wird immer wieder durch feinen Humor gebrochen, etwa, wenn verschiedene Darsteller lange philosophische Passagen dada-sprachlich effektvoll vortragen, nur um am Ende klanglich in einer babylonischen Kakophonie zu verschmelzen. Oder wenn ein Tubaspieler wie ein Clown auf der Bühne hin und her irrt und sich nicht entscheiden kann, welchem Orchester er zugehören will. Verstehen muss man das alles nicht, aber spüren, wie die Sehnsucht nach Vergangenem und der mutige Möglichkeitssinn miteinander verschmelzen.

Der Abend endet auf einer hochemotionalen Note mit Charles Ives' bekanntestem Stück "The Unanswered Question". Dem Sog, den diese utopieschwangere Inszenierung unbeantworteter Fragen in wunderschönen Klängen, Bildern und Bewegungen erzeugt, kann man sich nicht entziehen. 

Später wird man vielleicht sagen. "Ich war bei der Premiere von Marthalers 'Universe, incomplete' dabei." Künstlerisch hat diese seit einer Woche laufende Ruhrtriennale auf jeden Fall schon großartige und sicherlich bleibende Werke hervorgebracht. 

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