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Politik

Rumänien: Der gute Bürgermeister von Neumarkt

15. September 2021

Im siebenbürgischen Neumarkt in Rumänien krempelt ein Archäologe und politischer Quereinsteiger seine traditionell ethnisch gespaltene Stadt um - er versöhnt die Volksgruppen und schafft bessere Lebensperspektiven.

Zoltan Soos
Der Bürgermeister Zoltan Soos beim Rundgang durch den Freizeitpark in NeumarktBild: Keno Verseck/DW

An einem sonnigen Montagmorgen betritt der Bürgermeister Zoltan Soos gut gelaunt den Besprechungsraum. Einige Mitglieder des Planungsstabs sind schon da, nach und nach treffen auch die anderen ein, insgesamt fünfzehn Leute aus den Schaltstellen der Stadtverwaltung. Alle begrüßen sich freundschaftlich. Niemand liebedienert, niemand buckelt vor dem Oberhaupt der Stadt. In einem Land, in dessen Behörden und Institutionen peinlich genau auf Hierarchien geachtet wird, vor allem in Gesten und Sprache, will das viel bedeuten.

Der Bürgermeister spricht in kollegialem Ton, er wirkt sehr konsens- und teamorientiert. Und er kann gute Nachrichten verkünden an diesem Morgen: Es ist der Stadtverwaltung nach monatelangem Streit gelungen, aus dem Vertrag mit einem kommunalen Müllentsorgungsunternehmen auszusteigen. Die Firma hatte viele Jahre lang zu hohe Abfallmengen und Gebühren berechnet. Nun gibt es einen neuen Dienstleister für die Müllentsorgung. Die Stadt wird künftig etwa 250.000 Euro im Jahr sparen, die bisher illegal abgerechnet wurden. "Das ist das Ende der Müllmafia", sagt der Bürgermeister mit fester Stimme.

Nationalismus und Korruption

Neumarkt am Fluss Mieresch in Siebenbürgen, 130.000 Einwohner, Rumänisch: Targu Mures, Ungarisch: Marosvasarhely, ist keine Metropole und kein bedeutendes Wirtschaftszentrum Rumäniens. Aber eine der symbolbeladendsten Städte im Land. Neumarkt war im März 1990, wenige Monate nach dem Sturz der Ceausescu-Diktatur, Schauplatz bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen zwischen Rumänen und Angehörigen der ungarischen Minderheit, provoziert von rumänischen Nationalisten und Kadern des alten Regimes. Auch später entzündeten sich in der Stadt immer wieder Kontroversen um die rumänische Minderheitenpolitik. Und: Hier regierte zwei Jahrzehnte lang ein eingefleischter rumänischer Nationalist und einer der korruptesten Bürgermeister Rumäniens. Neumarkt war eine Frontstadt, gleich in mehrfacher Hinsicht.

Vor einem Jahr änderte sich das: Am 27. September 2020 wählten die Menschen in der Stadt Zoltan Soos, 47, zum Bürgermeister: einen Mann ohne Parteibuch, der von Beruf Archäologe ist, das örtliche Museum leitete und eigentlich nie in die Politik wollte - wären da nicht die jahrzehntealten Probleme seiner Heimatstadt gewesen, von ethnischer Spaltung bis hin zu Korruption und Misswirtschaft.

Abkehr vom Polit-Establishment

Die Wahl von Soos war eine Sensation in Rumänien. Denn er ist ethnischer Ungar. Wäre die Abstimmung, wie üblich, entlang ethnischer Trennlinien verlaufen, hätte er niemals gewinnen können - denn Ungarn machen in Neumarkt nur 42 Prozent der Bewohner aus. Doch Soos war mit einem antinationalistischen, antiethnizistischen, Anti-Korruptions- und Umweltprogramm angetreten. Und er war der erste Bürgermeisterkandidat in der Geschichte der Stadt, der explizit einen zweisprachigen, rumänisch-ungarischen Wahlkampf führte. Damit konnte er auch viele Rumänen überzeugen. Das ist umso beachtlicher, als viele Politiker im Land bei Bedarf noch immer Vorurteile gegen die ungarische Minderheit schüren.

Soos repräsentiert einen Trend im urbanen Rumänien: Immer mehr Menschen in Städten wählen unabhängige Bürgermeister mit Programmen, in denen es um Transparenz, gutes Regieren, Anti-Korruptionskampf und um nachhaltige Lösungen für Infrastruktur- und Umweltprobleme geht. Rumänien ist damit nicht allein in der Region: In vielen Städten Mittel- und Südosteuropas, darunter Prag, Budapest, Zagreb und Sarajevo, haben die Menschen genug von Ethnizismus, politischer Willkür, Korruption, Umweltverschmutzung oder mangelnden Lebensperspektiven - und deshalb in jüngster Zeit Bürgermeister und Bürgermeisterinnen gewählt, die nicht zum Polit-Establishment gehören und von denen sie sich Lösungen für ihre Probleme erhoffen.

"Die Leute wollen Ergebnisse"

Zoltan Soos ist zwar nicht ganz neu in der Lokalpolitik von Neumarkt. Er war eine Zeit lang Stadtratsabgeordneter und verlor die Bürgermeisterwahl 2016 nur knapp. Dennoch: Warum begibt sich ein Mann, der über mittelalterliche Bettelorden promoviert hat und Spezialist für den transsilvanischen Burgenbau im 13. Jahrhundert ist, in den modernen rumänischen Politdschungel? Soos lacht bei dieser Frage. "Vielleicht habe ich das von meinem Großvater geerbt", sagt er, "er war in den 1950er Jahren hier Vize-Bürgermeister und hat mich Lokalpatriotismus gelehrt." Dann fährt er ernster fort: "Mich reizt nicht die Politik an sich, sondern mich hat mein Gerechtigkeitsgefühl angetrieben. In den vergangenen zwanzig Jahren war die Stadtverwaltung sehr schlecht und außerordentlich korrupt. Ich wollte das nicht nur kritisieren, sondern ändern."

Der Bürgermeister Zoltan Soos besichtigt die Sanierung einer Schwimmhalle in NeumarktBild: Keno Verseck/DW

Eine gewaltige Aufgabe. Der ehemalige Bürgermeister, Dorin Florea, ein Politiker, der im Lauf seiner Karriere vier Mal die Partei wechselte, hatte ein weit verzweigtes Klientelsystem errichtet, mit dem die kommunalen Kassen geplündert wurden. Die Leiterin der Sozialabteilung im Rathaus erzählt beispielsweise, wie eine private, mit Stadtoberen verbandelte Firma die Essensausgabe an bedürftige Renter organisierte und sich dabei aus dem Sozialfonds der Stadt betrügerisch bereicherte. Soos selbst betont allerdings, dass die Vergangenheit keine Ausrede sein dürfe. "Nach einem Jahr kann man nicht mehr dauernd damit kommen, wie korrupt früher alles war", sagt er. "Die Leute wollen Ergebnisse sehen."

Aufgeblähter Verwaltungsapparat

Einige können der Bürgermeister und sein Team bereits vorweisen: Neben dem Wechsel des Müllentsorgers hat die Digitalisierung der Verwaltung und eine Neugestaltung des maroden öffentlichen Nahverkehrs begonnen. So soll der Bus-Fuhrpark schrittweise mit umweltfreundlichen Erdgasfahrzeugen erneuert werden. Überhaupt spielt Umwelt eine große Rolle im Programm von Zoltan Soos. Er will mehr Grünflächen und Parks in Neumarkt anlegen, auf einem Gelände am Stadtrand soll demnächst ein Solarpark entstehen.

Eines der wichtigsten Vorhaben des Bürgermeisters ist jedoch eine Reform des Verwaltungsapparates der Stadt. Rumäniens Rathäuser sind im EU-Vergleich berüchtigt für ihre völlig ausufernde Zahl von Angestellten. Doch Neumarkt ragt selbst aus diesen Verhältnissen heraus. Das Rathaus war bis vor kurzem größter Arbeitgeber der Stadt, auch das ein Ergebnis von zwei Jahrzehnten Korruption. Es beschäftigte rund 1300 Personen, etwa zwei Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung in Neumarkt - rumänischer Spitzenwert. "Wir hatten allein über 100 Abteilungsleiter und Direktoren", sagt Zoltan Soos. "Viele von ihnen konnten selbst nicht genau erklären, was sie machen. Wir haben nun mit Entlassungen begonnen und wollen die Zahl unserer Angestellten langfristig mindestens halbieren."

Der "Schwarze März"

Über allen Vorhaben des Bürgermeisters steht jedoch sein großes Projekt, die bislang nahezu unüberwindbar scheinende Mauer zwischen Rumänen und Ungarn in Neumarkt niederzureißen. Das hat auch einen persönlichen Hintergrund: Soos erlebte die bürgerkriegsähnlichen Ereignisse in Neumarkt während des "Schwarzen Märzes" 1990 als 16jähriger persönlich mit. Sie hätten ihn zutiefst verstört, erzählt er, gleichzeitig sei er aber schon damals überzeugt gewesen, dass Rumänen und Ungarn sich nicht wirklich hassten, sondern manipuliert worden waren.

Neumarkt am 10.03.2018: Ethnische Ungarn demonstrieren für ein Autonomiestatut ihrer RegionBild: DW/C. Ștefănescu

Im März 1990 hatten rumänische Nationalisten und noch aktive Mitarbeiter von Ceausescus Geheimdienst Securitate die rumänische Bevölkerung in und um Neumarkt gegen die angeblich separatistischen Ungarn aufgehetzt. Die Kader des gestürzten Regimes wollten sich so eine neue Legitimation verschaffen. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen, denen Polizei und Armee zeitweise tatenlos zusahen, starben fünf Menschen, hunderte wurden zum Teil schwer verletzt. Rumänien stand damals kurzzeitig vor einem Kriegszenario, wie es später in Jugoslawien Realität wurde.

Tausend Jahre gemeinsame Geschichte

Heute spricht Soos mit einer gewissen Gelassenheit über den "Schwarzen März". Noch immer werde viel zu wenig betont, dass es damals nicht um einen ethnischen Konflikt, sondern um eine Inszenierung der alten Securitate gegangen sei. "Überhaupt ist es wichtig, dass wir aus der Vergangenheit nicht nur die Konflikte kennen, sondern auch das Zusammenleben, das Gute", sagt der Bürgermeister. "Unsere gemeinsame Geschichte in Siebenbürgen ist tausend Jahre alt und sie besteht fast nur aus Gemeinschaft und Zusammenleben."

Rumäniens Diktator Nicolae Ceausescu: Sein Regime war von nationalistischem Größenwahn geprägtBild: picture alliance/AP/D. Endlicher

Ein etwas idyllisches Bild, das wohl mehr eine politische Botschaft sein soll. Lange Zeit waren die Rumänen in Siebenbürgen marginalisiert. Als das Gebiet 1920 durch den Vertrag von Trianon Teil des neuen Großrumäniens wurde, kehrte sich die Situation um. Vollends zu Bürgern zweiter Klasse wurden Minderheiten und vor allem Ungarn unter der Ceausescu-Diktatur mit ihrem nationalistischen Größenwahn. Einen grundlegenden Wandel gab es nach dem Sturz des Regimes nicht - bis heute ist Nationalismus in der politischen Kultur Rumäniens tief verwurzelt. So kommt es, dass viele Ungarn aus Siebenbürgen nach wie vor mit dem rumänischen Staat fremdeln und sich inzwischen mehr mit Ungarns Premier Viktor Orban identifizieren, der seinerseits eine ethnozentristische Rethorik pflegt und ungarische Minderheiten mit Milliardensummen unterstützt.

Vorbild für Multikulturalismus

Zoltan Soos möchte sich zu Orban nur mit einem einzigen Satz äußern. "Seine Standpunkte sind sehr markant", sagt er lächelnd und augenzwinkernd. Der Bürgermeister spricht lieber über seine eigene Befindlichkeit. "Ich fühle mich sehr wohl in Rumänien und in Neumarkt, persönlich habe ich als Ungar hier niemals Diskriminierung erlebt und hier ist auch meine Heimat."

Dann, am Ende des Gesprächs, bittet er darum, noch eine Botschaft verkünden zu dürfen: "Mein Team und ich möchten, dass Neumarkt in Europa zu einem Beispiel für gutes Zusammenleben und zu einem Vorbild für Multikulturalismus wird."