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Politik

Rumänien: Die Pandemie der Corona-Skeptiker

20. Oktober 2021

Rumänien erlebt derzeit eine der schlimmsten Corona-Wellen in Europa. Schuld sind verbreitete Impfskepsis und mangelnde Handlungsbereitschaft von Präsident, Regierung und Behörden.

Rumänien | Coronavirus | Intensivstation in Bukarest
Intensivstation eines Krankenhauses in der rumänischen Hauptstadt BukarestBild: Vadim Ghirda/AP/dpa/picture alliance

Das Video aus dem Universitätskrankenhaus der rumänischen Hauptstadt Bukarest ist schwer erträglich. Es gibt kein einziges freies Intensivbett mehr, die Säle und Korridore sind überfüllt mit wartenden Kranken, medizinisches Personal fährt Tote in schwarzen Plastiksäcken über die Flure.

Ständig liefern Notfall-Ambulanzen neue Patienten ein. Fast alle sind alte Menschen, fast niemand ist gegen das Coronavirus geimpft. Viele können kaum atmen, einige sagen, dass sie sich trotz allem nicht impfen lassen würden. Ein Arzt kommentiert: "Dieser Ansturm hier hat mit dem Leichtsinn der Leute und ihrem Mangel an Informationen zu tun. Die Politiker müssten viel nachdrücklicher sein. Wenn es ihnen um das Wohl der Wähler ginge, müssten sie sagen: 'Lasst euch impfen!'"

Der kommentarlose Videofilm aus dem Universitätskrankenhaus Bukarest ist sechzehn bedrückende Minuten lang und trägt den Titel: "So sieht eine Gesundheitskatastrophe aus". Veröffentlicht hat ihn in der vergangenen Woche das rumänische Investigativportal Recorder.

Täglich Rekordzahlen

Was der Film am Beispiel eines einzigen Krankenhauses zeigt, spielt sich derzeit überall in Rumänien ab. Das Land erlebt eine der schlimmsten Corona-Wellen in Europa. Fast jeder Tag bringt einen neuen Rekord seit Beginn der Pandemie im März 2020. Am Dienstag (19.10.2021) wurden für die vergangenen 24 Stunden fast 19.000 Neuinfektionen und 574 Corona-Tote gemeldet.

Mobile Impfung in Bukarest im April 2021. Inzwischen ist Impfskeptizismus weit verbreitetBild: Cristian Cristel/Xinhua/picture alliance

"Wir sind nicht einfach in einer Pandemie, wir sind in einem Desaster", sagte der Vorsitzende des Rumänischen Ärztekollegs (CMR), Daniel Coriu, am Dienstag. Bereits in der vergangenen Woche hatte das Ärztekolleg unter dem Titel "Verzweiflungsschrei" einen offenen Brief verfasst und das Desaster im Gesundheitswesen beschrieben.

Niedrige Impfquote, einflussreiche Impfgegner

Es ist noch dazu ein Desaster, das sich auf dem Hintergrund einer schweren politischen Krise abspielt: Nach monatelangen Koalitionsstreitigkeiten stürzte Anfang Oktober die sozialliberale Regierung des Premiers Florin Citu über ein Misstrauensvotum. Bis sich eine neue Koalition und eine neue Regierung zusammenfinden, könnten Wochen vergehen. "Unser Beileid, Rumänien!", titelte das Portal Hotnews angesichts der katastrophalen gesundheitlichen Situation und der politischen Krise im Land.

Zwar ist Rumänien kein völlig einzigartiger Fall in Europa. Bei der Sieben-Tage-Inzidenz und den täglichen Todeszahlen haben Lettland, Litauen und Bulgarien zur Zeit ähnlich hohe Werte. Was Rumänien jedoch von den anderen EU-Ländern unterscheidet: Sein Gesundheitswesen ist so überlastet wie kein anderes und steht nach den Worten vieler Krankenhausdirektoren und Ärzte kurz vor dem Zusammenbruch. Zugleich hat Rumänien zusammen mit Bulgarien die niedrigste Corona-Impfquote der EU. Nur etwa 30 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft - deutlich weniger als die Hälfte des EU-Durchschnitts. Impfskeptizismus ist äußerst weit verbreitet und wird sowohl von nationalistischen Politikern als auch von der einflussreichen Rumänisch-Orthodoxen Kirche (BOR) unterstützt.

Protest von Corona-Skeptikern und Impfgegnern in Bukarest am 20.03.2021Bild: Octav Ganea/Inquam Photos/REUTERS

Corona-Gefahr heruntergespielt

Den rumänischen Staatspräsidenten Klaus Iohannis veranlasste das Corona-Desaster am Dienstag zu einer Ansprache an die Bevölkerung mit schwerwiegenden Worten. Iohannis nannte die Situation ein "nationales Drama furchtbaren Ausmaßes" und kündigte für Mittwoch (20.10.2021) eine Krisensitzung aller Entscheidungsträger der Regierung an. Der Staatschef machte den verbreiteten Impfskeptizismus, aber auch den "Mangel an konkreten Aktionen der Behörden" für die Lage verantwortlich und appellierte an die Bevölkerung, sich impfen zu lassen.

So manche Kommentatoren empfanden die Ansprache als zynisch - denn Iohannis und die von ihm unterstützte Regierung unter dem inzwischen nur noch kommissarisch amtierenden Premier Florin Citu hatten im Pandemie-Management monatelang chaotisch agiert, geschlampt und die Corona-Gefahren sogar heruntergespielt. Noch im Juni bezeichnete Iohannis die Impfkampagne im Land als "Erfolg" und sagte, die Pandemie sei gestoppt. Auch Florin Citu erklärte im Juni, die Pandemie sei "eliminiert" worden - obwohl Experten bereits damals widersprochen und eine Vorbereitung auf die vierte Corona-Welle angemahnt hatten.

Durch Impfung zum "Zombie"

Doch die Regierung blieb weitgehend untätig und setzte sogar auf Lockerungen. Die Maskenpflicht in öffentlichen Einrichtungen und Geschäften wurde praktisch kaum durchgesetzt, auch Beschränkungen für Massenveranstaltungen wie Impfnachweise oder Tests wurden häufig nicht kontrolliert. Ebenso wenig rief die Regierung nachdrücklich zum Impfen auf. Erst Anfang Oktober, als sich die verheerende vierte Corona-Welle bereits abzeichnete, erließ die Regierung wieder neue Beschränkungen wie eine erweiterte Maskenpflicht, Ausgangssperren und Einschränkungen für Massenveranstaltungen.

Rumäniens Staatspräsident Klaus IohannisBild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Vor allem aber setzten Staatschef und Regierung dem verbreiteten Impfskeptizismus bisher so gut wie nichts entgegen. Impfgegner konnten im Land ungehindert demonstrieren, in sozialen Netzwerken Rumäniens kursieren hunderttausendfach Fake News über Impfstoffe und Impfprogramme. Vor kurzem sorgte eine Audio-Aufzeichnung aus einer Schulstunde in der nordrumänischen Stadt Botosani für Schlagzeilen. Kritische Schüler hatten den Mitschnitt heimlich angefertigt. Eine Lehrerin sprach davon, dass man durch die Impfung zum "Zombie" werde und beschuldigte die Krankenhäuser einer organisierten Massenvernichtung "wie in Auschwitz".

Kirche gegen Impfung

Auch Priester und Bischöfe der Rumänisch-Orthodoxen Kirche stehen an der vordersten Front der Impfgegner und -skeptiker. Vergangene Woche sprach sich beispielsweise der Erzbischof der südostrumänischen Diözese Tomis, Teodosie, gegen Impfungen aus; sie seien unsicher, zudem würde auch die EU die Impfungen inzwischen stoppen.

Teodosie, Erzbischof der rumänischen Diözese TomisBild: Vadim Ghirda/AP Photo/picture alliance

Ermittlungen gegen Impfgegner und Falschaussagen wie die von Teodosie gab es bisher nur in wenigen Fällen. Insbesondere gegenüber der Orthodoxen Kirche verhält sich Rumäniens Politik vorsichtig, da die Kirche eine der Institutionen mit dem höchsten Ansehen unter der Bevölkerung ist. Vor allem in ländlichen Gegenden hat das Wort des Priesters oft das größte Gewicht.

Solidarität der Nachbarländer

Wegen der verheerenden vierten Corona-Welle musste die rumänische Regierung vergangene Woche erstmals um ausländische Hilfe bitten. Aus anderen EU-Ländern sollen nun Sauerstoff-Apparate und Intensivbetten geliefert werden. Das Nachbarland Moldau, ungleich ärmer als Rumänien, schickte Ärzte und medizinisches Personal zur Unterstützung über die Grenze. Die ungarische Regierung erklärte sich bereit, rumänische COVID-19-Patienten aufzunehmen; erste Kranke wurden bereits nach Süd- und Südostungarn transportiert. Die Geste der Solidarität hat auch deshalb Bedeutung, weil das rumänisch-ungarische Verhältnis in der jüngsten Zeit durchaus spannungsgeladen war.

Unterdessen warnte Rumäniens Gesundheitsminister Attila Cseke davor, irgendeine Art von schneller Besserung zu erwarten. Man sei noch längst nicht auf dem Höhepunkt der vierten Corona-Welle angekommen, sagte Cseke am Dienstag im öffentlich-rechtlichen Fernsehen TVR. Nicht einmal ein Abflachen der Infektionszahlen auf hohem Niveau, so Cseke, sei derzeit in Sicht.