Rumänien wählt zwischen zwei Welten - mit Folgen für Europa
17. Mai 2025
"Demokratie oder Illiberalismus", "Europa oder Isolation", "Mathematik-Champion oder Fußball-Hooligan" - solche Schlagzeilen und Einordnungen liest oder hört man in diesen Tagen in nahezu allen unabhängigen rumänischen Medien. Wenige Tage vor der zweiten, entscheidenden Runde der Präsidentschaftswahl in Rumänien am kommenden Sonntag (18.05.2025) ist die öffentliche Stimmung so zugespitzt wie selten zuvor in den vergangenen Jahrzehnten. Ausnahmslos alle Kommentatoren und Beobachter sehen das Land an einem Scheideweg und in einem wichtigen historischen Moment.
Tatsächlich war noch keine Präsidentschaftswahl seit dem Sturz der kommunistischen Diktatur im Jahr 1989/90 von einer derart radikalen Gegensätzlichkeit der beiden Kandidaten und von so tiefen gesellschaftlichen Gräben geprägt wie die jetzige. Und selten zuvor war der Wahlausgang so unvorhersehbar wie dieses Mal. Dabei legen beide Kandidaten Wert darauf, dass sie nicht "aus dem System" stammen und nicht von den traditionellen postkommunistischen Parteien Rumäniens repräsentiert werden.
Mit Simion ins Chaos
Auf der einen Seite steht George Simion, 38, Chef der rechtsextremen, prorussischen Partei Allianz für die Vereinigung der Rumänen (AUR), ehemals Fußball-Hooligan, heute erklärter "Souveränist" und Fan von US-Präsident Donald Trump und dem ungarischen Regierungschef Viktor Orban. Er war mit großem Abstand Gewinner der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 4.05.2025 und erhielt fast 41 Prozent.
Sein Kontrahent: Nicusor Dan, 55, parteiloser Bürgermeister von Bukarest, Mathematiker, einst Bürgeraktivist gegen Korruption und ein Mann mit klar proeuropäischen, überwiegend liberalen und teils gemäßigt konservativen Ansichten. Er lag in der ersten Runde weit hinter Simion und kam nur auf 21 Prozent.
Es steht viel auf dem Spiel bei der Wahl - für Rumänien und für Europa. Rumänien ist das sechstgrößte EU-Land und das größte in Südosteuropa. Es hat die längste EU-Grenze zur Ukraine, die wichtigste NATO-Basis und den wichtigsten Raketenabwehrschirm der Region. Bislang war Rumänien ein verlässlicher und berechenbarer Partner in der Europäischen Union und der NATO. Mit einem prorussischen, rechtsextremen Präsidenten Simion könnte sich das ändern - und Rumänien in einem ähnlichen Chaos versinken wie die USA unter Trump.
Unklare Umfragen
Der Präsident hat in Rumänien zwar keine starken exekutiven Befugnisse. Doch er ist Oberbefehlshaber der Armee und Chef des Obersten Rates zur Landesverteidigung (CSAT). Er ernennt den Premier, die Chefs der beiden wichtigsten Geheimdienste sowie einen Teil der Verfassungsrichter und repräsentiert Rumänien in der EU und der NATO. Zudem kann er an Regierungssitzungen teilnehmen. All das gibt ihm große Einflussmöglichkeiten in der Innen- wie Außenpolitik.
Die meisten Umfragen der vergangenen zwei Wochen sahen Simion mal leicht, mal auch deutlich vorn. In einer der jüngsten Umfragen liegen die beiden Kandidaten jedoch gleichauf. Wahlprognosen sind in Rumänien allerdings extrem unzuverlässig. Den haushohen Sieg von Simion in der ersten Runde hatte kein einziges Institut vorhergesagt.
Simions plötzliche Wende
Der AUR-Chef machte in den vergangenen Jahren mit wüsten, teils physisch gewalttätigen Auftritten Schlagzeilen und versprach regelmäßig, "das System zu zerstören". Mehr oder weniger direkt versprach er auch einen EU- und NATO-Austritt und einen Anschluss der Republik Moldau und südwestukrainischer Gebiete an Rumänien. Er fiel mit prorussischen Sympathien und nationalistischer Hetze gegen die ungarische Minderheit Rumäniens auf.
Von fast allem ist Simion in jüngster Zeit plötzlich abgerückt. Er tritt für seine Verhältnisse ruhig auf, verzichtet auf vulgäre Ausdrücke und Herumschreien. Statt von EU- und NATO-Austritt spricht er von Respekt und Würde für Rumänien und davon, dass das Land mit ihm als Präsident ein Partner "auf Augenhöhe und nicht mehr auf Knien" sein werde. Geblieben ist die antiukrainische Hetze - so etwa verbreitet er Lügen über die angebliche Bevorzugung ukrainischer Schutzsuchender vor rumänischen Staatsbürgern. Geändert hat sich auch nicht, dass Simion von Staatsverwaltung, Wirtschaft, Europäischer Union und Außen- sowie Verteidigungspolitik kaum Ahnung hat.
Überraschend erhielt Simion unlängst Wahlkampfhilfe von Viktor Orban, der den rechtsextremen Kandidaten in einer Rede für seine Souveränitätspolitik lobte. Das führte erstmals seit vielen Jahren zu einem Konflikt mit der Minderheitenpartei der Ungarn in Rumänien, UDMR, die sich wegen früherer gewalttätiger antiungarischer Aktionen Simions scharf von diesem abgrenzt und die rund 1,2 Millionen Ungarn in Rumänien zur Wahl Nicusor Dans aufruft.
"Systemsprenger" repräsentiert das System
Mit Dan hätten Rumänien und die EU einen Präsidenten, der für einen proeuropäischen Kurs, für Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Berechenbarkeit sowie für eine uneingeschränkte Unterstützung der Ukraine steht. Als Bukarester Bürgermeister hat Dan bewiesen, dass er Reformen durchsetzen kann, auch wenn er einen Teil seiner Versprechen bisher nicht erfüllen konnte. Sein Problem ist, dass er sich mitunter im Gestrüpp von Komplexität verheddert. In den Debatten mit seinem Kontrahenten der vergangenen Wochen reagierte er oft geistreich. Es wurde aber auch sichtbar, dass er an falscher Stelle konfliktscheu ist und sich häufig zu defensiv verhält.
Nicusor Dan hat angekündigt, im Falle seines Wahlsiegs den Interimspräsidenten Ilie Bolojan zum Premier zu machen, einen als weitgehend integer geltenden Politiker, der als Bürgermeister der westrumänischen Stadt Oradea (Großwardein) einen guten Ruf genoss. Als langjähriger Spitzenpolitiker der Nationalliberalen Partei (PNL) repräsentiert er jedoch "das System" - für Dans Wahlchancen eher negativ, denn der Hass großer Teile der rumänischen Gesellschaft auf das Establishment ist in dieser Wahl die treibende Kraft.
Dabei repräsentiert ausgerechnet der selbst ernannte "Systemsprenger" George Simion eine Kontinuität des alten national-stalinistischen Ceausescu-Systems, von dem sich Teile bis in die heutige Zeit gerettet haben - unter anderen in die Partei AUR. Simion würde auch den prorussischen Esoteriker Calin Georgescu zum Premier ernennen. Der Rechtsextremist war von einer erneuten Präsidentschaftskandidatur ausgeschlossenen worden. Und er hat seine gesamte politische Karriere als Protegé ehemaliger Ceausescu-Diplomaten und Mitarbeiter des berüchtigten Geheimdienstes Securitate gemacht.
Bekannt ist das in Rumänien seit langem - doch erst jüngst machte es wieder Schlagzeilen. Georgescu selbst nennt beispielsweise als einen seiner "wichtigsten Mentoren" Mircea Malita, langjähriger UN- und US-Botschafter Rumäniens in der Ceausescu-Zeit und nach 1989 eine graue Eminenz der rumänischen Außenpolitik. Georgescu soll auch Verbindungen zum Netzwerk des Securitate-Generals Mihai Caraman gehabt haben, der in der Ceausescu-Zeit durch das Ausspionieren der NATO Berühmtheit erlangte und von 1990 bis 1992 den rumänischen Auslandsgeheimdienst SIE leitete.
Der Bürgerrechtler und ehemalige Ceausescu-Regimegegner Gabriel Andreescu kommt in einem Essay deshalb zur Schlussfolgerung: "Ein Sieg George Simions wäre die letzte Etappe der Wiederauferstehung der ehemaligen kommunistischen Machtnetzwerke."