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Russische Menschenrechtsorganisation "Memorial" erhält "alternativen Nobelpreis"

10. Dezember 2004

– Vorsitzender Oleg Orlow kritisiert den Westen wegen seines Verhaltens in der Tschetschenien-Frage

Bonn, 9.12.2004, DW-RADIO / Russisch, Michail Buschujew

In Stockholm wird heute der "alterbnative Nobelpreis" verliehen. Dieser Preis wird von der Stiftung "Right Livelihood Award" vergeben, der vom deutsch-schwedischen Journalisten, Jakob Carl von Uexküll, gegründet wurde. Zu den Preisträgern gehört in diesem Jahr auch die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial". In der offiziellen Erklärung heißt es, dass die russischen Menschenrechtler den Preis bekommen, "weil sie unter schwierigsten Bedingungen persönlichen Mut an den Tag gelegt haben und demonstriert haben, dass es notwendig ist, die Menschenrechte auf der ganzen Welt zu verteidigen". Wir haben einem der Leiter von "Memorial", Oleg Orlow, gratuliert, der sich derzeit in Stockholm aufhält, und ihn gefragt, was dieser Preis für ihn und seine Kollegen bedeutet.

Orlow:

Die Tatsache, dass unsere Arbeit so bewertet wird, schmeichelt uns natürlich, wir freuen uns sehr darüber. Wir betrachten diesen Preis nicht nur als eine Auszeichnung von "Memorial", sondern als Verdienst der Menschenrechtsbewegung insgesamt, vieler Kollegen, mit denen wir zusammenarbeiten.

Frage:

Oleg Petrowitsch, in den letzten Jahren widmet der Westen dem Tschetschenien-Problem nicht gerade viel Aufmerksamkeit. Haben Sie nicht den Eindruck, dass diese Auszeichnung eine Art Entschuldigung, eine Art Entschädigung für die Passivität des Westens ist?

Orlow:

Nein, ich denke nicht, dass das so ist. Ich glaube, dass die Preisverleiher die Arbeit der Menschenrechtsbewegung ehrlich bewertet haben. Ich weiß, dass man bestrebt ist, die Arbeit der Personen ernst zu bewerten, die im Bereich Menschenrechte auf der ganzen Welt tätig sind. Zusammen mit uns werden unsere, man kann sagen Kollegen aus Nikaragua, Argentinien und Indien ausgezeichnet.

Frage:

Wie schätzen Sie die Rolle des Westens bei der Beilegung des Konfliktes in Tschetschenien allgemein ein?

Orlow:

Nicht eindeutig. Meiner Meinung nach gibt es keinen einheitlichen Westen, kein einheitliches Europa. Einerseits wurde tatsächlich mehrmals ernste Besorgnis geäußert, wurden bestimmte Dinge verurteilt. So wurde zum Beispiel meiner Ansicht nach bei der letzten Sitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eine ausgezeichnete Resolution über die Menschenrechtssituation in Tschetschenien angenommen, die auf dem Bericht des Sonderberichterstatters für Tschetschenien, Herrn Bindig, basiert. Darin heißt es, dass die Menschenrechtslage in Tschetschenien katastrophal sei. Ohne solche Schritte wäre die Lage in Tschetschenien natürlich noch viel schlimmer. Andererseits wissen wir, dass viele Politiker und Regierungen Europas eine heuchlerische Position vertreten. Sie verurteilen die Situation zwar, aber nicht mit der nötigen Härte. Diesen Worten folgen gewöhnlich an Russland gerichtete Komplimente wegen der sich angeblich verbessernden Situation in Tschetschenien. Das ist sehr schade, weil wir uns eine klarere und ehrlichere Position Europas, des Westens insgesamt, in dieser für Russland so empfindlichen Frage, gegenüber diesem so blutigen und schrecklichen Konflikt wünschen.

Frage:

Was halten Sie vom Standpunkt Belgiens, das sich geweigert hat, Vertreterinnen des Komitees der russischen Soldatenmütter Visa auszustellen und damit die Verhandlungen mit dem Vertreter der tschetschenischen Separatisten, Achmed Sakajew, vereitelt hat?

Orlow:

Ich denke, dass es sich eben hier um einen Fall handelt, wo der Westen vor dem Druck aus Moskau Angst hat und sich auf völlig unzulässige Zugeständnisse gegenüber dem Kreml einlässt. Man kann sogar sagen, dass sie sich damit guten Dingen in den Weg stellen, die geschehen könnten. Es gibt eine normale, richtige Initiative, die von der russischen bürgerlichen Gesellschaft ausgeht. Es geht in diesem Fall nicht nur darum, dass der Westen nicht hilft, er spielt mit dem Kreml ganz einfach ein Spiel. Vom Westen zu sprechen ist hier natürlich falsch, es handelt sich um die Regierung Belgiens. Ein sehr trauriger Fall und ein sehr beunruhigender Augenblick. (lr)