Zersplitterte Opposition in Russland
20. Juli 2013 Welche Nummer wählt man, um Europa anzurufen? Mit diesem Satz soll einst der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger über die Europäische Union gespottet haben - und deren vermeintliches Zuständigkeits-Wirrwarr. Das Gleiche galt seit Jahren für die Opposition in Russland, denn die Auswahl war groß: Es gab alte und junge, rechte und linke Politiker; einige Parteien, die im Parlament sitzen, und viele, die nicht zugelassen sind. Sie alle hatten eins gemeinsam: Ihr Einfluss auf das politische Leben in Russland war marginal. Ein starker Gegner des Kremls war nicht dabei.
Das könnte sich ändern. Tausende gingen am Donnerstag (18.07.2013) in der Hauptstadt Moskau und anderen Städten auf die Straßen, um gegen die Verurteilung des oppositionellen Bloggers Alexej Nawalny zu protestieren. Ein Gericht hat den Kreml-Kritiker wegen eines angeblichen Wirtschaftsverbrechens zu fünf Jahren Haft verurteilt. Einen Tag später wurde Nawalny von einem anderen Gericht überraschend freigelassen. Er soll so lange auf freiem Fuß bleiben, bis das Urteil gegen ihn rechtskräftig wird.
Vom Kreml geadelter Oppositionsführer
In den letzten Jahren gab es in Moskau mehrere Protestaktionen, bei denen Zehntausende auf die Straße gegangen waren. Doch es ist das erste Mal, dass ein Oppositioneller so viele Anhänger mobilisieren konnte, ohne selbst dabei zu sein. Es ist auch das erste Mal, dass mitten in der sommerlichen Urlaubszeit so viele Menschen an einer nicht genehmigten Demonstration teilgenommen haben.
Manche Beobachter in Russland sehen Nawalny bereits als den unumstrittenen Oppositionsführer Nummer eins. Der Kreml habe den Blogger indirekt zu seinem wichtigsten Gegner geadelt, so ihre Botschaft.
Schwach, marginalisiert, zersplittert
Ob das stimmt, bleibt abzuwarten. Umfragen zufolge hatte Nawalny bis vor Kurzem keinen Vorsprung zu anderen Oppositionellen. Das unabhängige Moskauer Meinungsforschungsinstitut "Lewada-Zentrum" stellte im Mai 2013 fest, dass nur sechs Prozent der Russen Nawalny unterstützen. Der Blogger lag damit etwa gleichauf mit anderen Oppositionellen. Die Zustimmungsrate für den russischen Präsidenten Wladimir Putin ist dagegen sieben- bis zehnmal so groß.
Dabei ist die russische Opposition schwach und zersplittert. Als stärkste Kraft gelten die Kommunisten, die über die zweitgrößte Fraktion im Parlament verfügen. Doch ihre Popularität schwindet seit Jahren. Berufspolitiker wie Boris Nemzow, Michail Kasjanow oder Wladimir Ryschkow gehören zur außerparlamentarischen Opposition. Sie genießen keine große Popularität und ihre liberale Partei PRP-PARNASS wurde erst vor Kurzem zugelassen.
Linke Nationalisten um Eduard Limonows Partei "Anderes Russland" zählen ebenfalls zur alten Oppositionsgarde. Ihr Einfluss gilt jedoch als marginal. Zu ihren Protestaktionen kommen lediglich einige hundert Menschen.
Neue Generation gegen Putin
Nawalny dagegen ist ein neues Gesicht in der russischen Politik. Sein schneller Aufstieg begann nach der Parlamentswahl im Dezember 2011, die von Fälschungsvorwürfen überschattet war. Schon damals machte der Blogger auf sich aufmerksam. Nawalny und der Anführer der "Linken Front", Sergej Udalzow, haben damals die Proteste mitorganisiert.
Beide sind Mitte 30 und zählen zu den erfolgreichsten Aktivisten im oppositionellen Lager. Beide sind Mitglieder im sogenannten Koordinationsrat der Opposition, der im Herbst 2012 gewählt wurde. Und beide werden von der Justiz unter Druck gesetzt. Udalzow steht unter Hausarrest und wartet auf seinen Prozess. Ihm wird vorgeworfen, im Mai 2012 Massenunruhen vorbereitet zu haben.
Moskauer Bürgermeisterwahl als Test
Ob der linksradikale Politiker Udalzow den Führungsanspruch Nawalnys akzeptiert, dem Kritiker zu große Nähe zu Rechtspopulisten vorwerfen, ist fraglich. Zwischen ihnen zeichnet sich Rivalität ab.
Beide wollten bei der Bürgermeisterwahl in Moskau am 8. September kandidieren. Doch Udalzow wurde nicht zugelassen, Nawalny bekam die Zulassung zur Wahl am Mittwoch (17.07.2013). Zuvor entschied sich der Koordinationsrat der Opposition, Nawalny zu unterstützen. Manche warfen diesem daraufhin vor, Udalzow ausgebootet zu haben.
Die Bürgermeisterwahl in Moskau dürfte der erste Test für Nawalnys neuen Stellenwert in der Opposition werden. Da er keine eigene Partei hat, wurde der Blogger von PRP-PARNAS nominiert. Umfragen zufolge könnte Nawalny bestenfalls den zweiten Platz erreichen.